: Die Gier kennt keine Verwandten mehr
Nach dem Shakespeare-Marathon „Schlachten“ hat sich Luk Perceval nun der Familie zugewandt: „Aars“ ist ein grausamer Reigen rund um die Orestie
von BIRGIT GLOMBITZA
Haustiere sind Kreuzungen aus den Neurosen, die die menschlichen Zähmungsversuche mit sich bringen, und instinktiver Barbarei. Hamster neigen zum Kannibalismus, Wellensittiche zu Selbstverstümmelungen. Doch gegen die Mitglieder einer der wohl asozialsten Familien der Antike, der Atriden, ist jeder Käfigkoller ein Klacks.
„Ich habe eine Schwester. Wir haben kein Haustier. Wir sind unsere eigenen Haustiere“, stellt Sohn Orest (Stefan Perceval) artig seinen Sippenstall vor. Bei Luk Perceval lautet sein Familienname schnörkelos „Aars!“ („Arsch“). Wie ein Kussmund prangt ein Anusabdruck auf dem Textbuch. „Anatomische Studie der Orestie“ nennen es die Autoren Luk Perceval und Peter Verhelst im Untertitel und werfen für zwei Stunde ihre Aischylosmaschine auf der Hamburger Kampnagelbühne K6 an.
Troja ist weit, Apollon wohnt auf einem anderen Stern, und wer braucht schon Erinnyen, wenn man sich vor Selbstekel die eigene Haut vom Leib ziehen könnte. Schuld ist keine Frage von hinterhältiger Kinderlandverschickung (Iphigenie) oder ausgiebigen Seitensprüngen (Aigisthos). Wo die Schande keinen Anfang und kein Ende nimmt, gibt es auch keinen weißen Stein, mit dem Athene den Freispruch herbeiwerfen könnte. Den Ärger muss man sich in „Aars!“ nicht erst ins Haus holen. Es bleibt sowieso alles in der Familie. Hier gibt es nur einen Kreis, knöcheltief gefüllt mit Wasser und bevölkert von einer Familie am Küchentisch. Darüber schwebt ein Lichterkranz (Bühne: Katrin Brack). Wie Spülreste liegen Mutter Klytaimnestra (Diane Belmans) und Tochter Elektra (Katrien Meganck) später in diesem Planschbecken, wenn Vati Agamemnon (Wim Opbrouk) sie hergenommen hat. Dazu blitzen die Scheinwerfer, als läge die Szene unter einem überdimensionalen Fotokopierer.
Aus dem rituellem Blutbad von Shakespeares Rosenkriegen, die Perceval in der vergangenen Saison in seinem zwölfstündigen Marathon „Schlachten“ – es wurde zur Inszenierung des Jahres 2000 gekrönt – ist ein Familienbad geworden. Die Orestie geht hier in einem langen, grausamen Reigen vor die Hunde. Perceval, der seit 1988 das Theater Het Toneelhuis in Antwerpen leitet, sucht das Ende aller Geschichten. Inzest interessiert ihn als eine Maßnahme zur Selbstausrottung. Eine Enthemmung, die die letzten Ecken zivilisatorischen Anstands auskehrt. Da, wo die Sprache nicht hinkommt.
„Nachdem die Boa alles verschlungen hat, beginnt sie sich selbst zu verschlingen“, heißt es im Prolog. „Warum die Boa sich selbst verschlingt? Es ist das Einzige, was der einsamen Boa noch Sinn gibt.“
Am Ende hat man der Schlangengrube beim Verdauen zugeschaut. Keine überwältigende Metzelchronik wie in „Schlachten“, sondern eine Bauchspiegelung von einem Monstrum „Familie“, das am Verdrängten erstickt. Diese „anatomische Studie“ verläuft nicht gleichbleibend aufregend, manchmal wirkt sie auch nur aufgekratzt. Jeder gegen jeden. Alle gegen Alles. Ein Kreisverkehr des Immergleichen. Wer nicht gerade fickt, dreht, wälzt oder kloppt sich. Die Regie tritt dann hilflos auf der Stelle und weiß aus Zerstörung und Exzess keine neuen Funken zu schlagen. Das Grauen bekommt einen Schluckauf.
Der großartige Text hat den längeren Atem. Brutal und poetisch zugleich trägt er die Familie zur nächsten Katastrofe, zu der sie sich versammelt wie andere unterm Weihnachtsbaum. Und schon rücken das Einfache und das Grundsätzliche ganz nah aneinander, klingen Kriegs- und Liebeserklärungen gleich, und die Gier kennt keine Verwandten mehr.
Auch die Musik weiß weiter. DJ Eavesdropper, was so viel heißt wie „Lauscher“, ist Chor und Kassandra zugleich. Kein sampelnder Gott, sondern selbstverständlicher Teilnehmer, Kommentator, und manchmal, wie Perceval im Presseheft sagt, „ist seine Sprache das Letzte, was diese Menschen noch haben“. Nicht gerade ein Rettungsring. Denn auch Eavesdropper droht am Ende mit ein paar Takten aus „Alle Menschen werden Brüder“.
Noch am 29. 10. auf Kampnagel. Ab Juni 2001 in der Berliner Schaubühne
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