: Die Axt am Mischpult
Katharina Thalbach hat zur Wiedereröffnung des Maxim Gorki Theaters „Die Möwe“ inszeniert. Ein DJ und die Boheme hinterm Maschendrahtzaun dienen der freundlichen Aktualisierung des musealen Repräsentationstheaters – gewagt wird leider nichts
von EVA BEHRENDT
Im weißen Balletttütü balanciert ein junges Mädchen über Messingsamoware. Dazu spricht sie, etwas atemlos, metrisch holprigen Tiefsinn zu Tod und Vergehen. Im Hintergrund frickelt ein Mann am Mischpult, um beißendes Geräusch in den Monolog zu blasen. Dann prügelt er mit der Axt auf ein Holzbrett ein, die Elektronik tobt, das Mädchen bekleckert sich kreischend mit Blut, umwogt von Unheil verheißenden Rauchschwaden. Bis hierher hat sich das Publikum in fauler Erwartung in Liegestühlen gefläzt. Doch jetzt springt Frau Irina, die Mutter des Regisseurs und selbst berühmte Theaterdiva, auf, läuft auf die Bühne und ruft scheinheilig: „Es riecht nach Schwefel! Ist das so vorgesehen?“
Das Theater auf dem Theater bricht ab. Aus dem künstlerischen Miss- und Unverständnis zu Beginn von Anton Tschechows „Die Möwe“ hat Katharina Thalbach in der ersten Premiere zur Wiedereröffnung des renovierten Maxim Gorki Theaters eine amüsant überzogene Klischee-Performance gemacht. Im Stück versteht sich der Jungregisseur Kostja als fabulous forerunner der Bühnenkunst, als feuriger Gegner jedes spießigen Realismus und, natürlich, als unverstandenes Genie, das dem Zeitgeist um Meilen vorauseilt. Seine Mutter, gegen deren Kunstauffassung sich die innerfamiliäre Avantgarde richtet, sorgt sich begreiflicherweise. Und Katharina Thalbachs zeitlose Tschechow-Interpretation, in der ein paar freundliche Aktualisierungen das museale Repräsentationstheater aufweichen, ohne es in Frage zu stellen, gibt Frau Mama recht.
Man muss die Illusionen nicht mit dem Beil zerhacken, um zur vergänglichen und gerne ganz persönlichen Wahrheit zu gelangen. Um diese Botschaft kreist „Die Möwe“ ohnehin. Mehr noch als die Kunst dient jedoch die Liebe – die unglückliche zumal – als Beispiel der Desillusionierung. Kostja (Oliver Boysen) liebt seine Schauspielerin Nina (Anna Thalbach), die den Bettgenossen seiner Mutter (Ursula Werner), den Schriftsteller Trigorin (Burghart Klaußner), anhimmelt. Der jedoch kehrt nach kurzer Vernarrtheit und Vaterschaft zu Irina zurück. Seinerseits wird Kostja von der stets besoffenen Verwalterstochter Mascha (Karina Fallenstein) begehrt, die schließlich, um „wenigstens eine Veränderung“ zu bewirken, den sie verehrenden Lehrer Medwedenko (Ulrich Anschütz) ehelicht. Und so weiter.
Ein Status quo der stur egozentrischen Gefühle, verpuffenden Energien, verzweifelten Zweckrelationen und Einsamkeiten, der sich selbst zwischen dem dritten und vierten Akt – es vergehen immerhin zwei Jahre – kaum ändert: Kostja und Nina, die überspannten Kinder und verheißungsvollen Talente, haben es zum drittklassigen Provinzkünstlertum gebracht. Sie trauern weiter um verlorene Liebe und Lebenssinn, doch Anna Thalbach wie auch Burghart Klaußner gelingt das Kunststück, die tränenreichen Momente dieser Einsicht nicht allein als pathetischen Sturz, sondern auch als Menschwerdung zu spielen.
Momme Röhrbein hat dafür die russische Boheme hinter deckenhohem Maschendrahtzaun verstaut und ihr bewegliche, halbtransparente Spiegelwände zur Seite gestellt, die die beredte Langeweile geschickt aus wechselnden Perspektiven zeigen. Wechselhaft auch das Interesse, mit dem man dem verhängnisvollen Ausbleiben von Entwicklung folgt: gerade errungene melancholische Federball-Leichtigkeiten am Würstchengrill fallen in angestrengten Slapstick zurück, Pausen der Erstarrung wirken, als würden die Schauspieler die Luft anhalten und still bis zehn zählen.
Doch gerade aus dem Eindruck, dass die ganze Aufführung unter merkwürdigem Konzentrationsmangel und mühsam unterdrückter Hektik leidet, wächst eine Zerfahrenheit, die der Tschechowschen Befindlichkeit vielleicht viel näher kommt als alle inszenierte Schwermut.
Nächste Aufführungen: 3.-5., 19. und 29.11., 19.30 Uhr im Maxim Gorki Theater, Am Festungsgraben, Mitte
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