Geschenkte Stunden

„Vollgefressen wie ein Kapitalist“ – Françoise Cactus war am Wochenende eine von vielen Stars bei der Lesung im Kulturhaus Tacheles in Mitte

von DETLEF KUHLBRODT

Am Samstagabend war das „Tacheles“ sehr voll. Einerseits eigentlich komisch, andererseits könnte man mit allen in Berlin eingeschriebenen Germanistikstudenten fast das Olympiastadion füllen. Wie auch immer: Unter dem zur Winterzeitumstellung passenden Titel „die geschenkte Stunde“ reihten sich ab 18 Uhr 35 Lesungen und Diskussionen in sieben Räumen und Sälen des Kunsthauses aneinander. „In einer außergewöhnlichen Location wird Literatur anhand unterschiedlicher Stimmungsbilder belegt und bespielt“, hieß es im Programm. Wenn das jemand in der Schule schreiben würde, würde es eine Fünf geben. Im echten Leben dagegen – lassen wir das. Macht ja nichts.

Kleinere und größere Stars und BachmannpreisträgerInnen lasen also vor. Unter anderem: Françoise Cactus, Zoran Drvenkar, Josef Haslinger, Katja Lange-Müller, Jasmin Tabatabai, Birgit Vanderbeke, Jamal Tuschick, Alissa Walser, Michael Kumpfmüller, Georg Klein, Helmut Krausser. Das Kultursponsoring zeigte sich von seiner Schokoladenseite. Bier, Schnaps und Zigaretten gab’s umsonst. Gegen acht wurde der erste hackebreite Mann von zwei kräftigen Männern nach draußen geführt.

Das Literaturspektakel wurde von allerlei Firlefanzspektakel begleitet. Im Treppenhaus hing zum Beispiel Freddy Wutz, ein junger Magier, an Bergsteigerseilen und wies auf die Programmpunkte hin. „Girls“ hatten T-Shirts an, auf denen „die geschenkte Stunde“ stand. Sie sagten, man solle still sein, wenn man sich am Rande von Lesungen unterhielt. Überall standen auch Leute mit Taschenlampen, die aus ihren Lieblingsbüchern lasen. Voll fett alles, auch wenn die neue – schwarzweiß gehaltene – Jägermeister-Fashion-Kollektion eher enttäuschte.

Begleitet von Brezel Göring las Françoise Cactus einen kleinen Krimi vor und sang zwischendurch. In ihrer Geschichte gab es „Galgengesichter“, Mädchen, deren „sanfte Wangen nach Blumen“, und Betten, die nach „Lavendel dufteten“. In ihrem neuen schönen Roman „Abenteuer einer Provinzblume“ sagt einer: „Ich hab mich vollgefressen, wie ein Kapitalist.“ Prima!

Michael Kumpfmüller („Hampels Fluchten“) klang wie ein Märchenonkel. Als wir bei Josef Haslinger („Opernball“) vorbeischauten, hatte der gerade seinen Vater geschlachtet und besprühte ihn nun mit Herrenparfüm. Die Drogen-&-Sex-Geschichte, die der „Morgenland“-Dichter Zoran Drvenkar vorlas, war prima! Der Autor hatte lange Haare. Wäre schön, wenn das wieder modern würde.

Später standen wir in einem Raum am Fenster. Jemand sagte, „kann mal jemand die Kunst rausschmeißen?“ Da mussten auch wir lachen. Ansonsten fühlte man sich, als wär man in einem Radio eingesperrt, an dem ständig jemand drehte. Um Mitternacht vor dem Tacheles standen noch Schlangen von Menschen, die nicht mehr reinkamen.