Geehrte Anarchisten und Königsmörder

„Il furore dei novanta“: Stahlstachel im Girlie-Gewand – das Tacheles zeigt, wie sich italienische Künstlerinnen und Künstler eine Welt aus Begeisterung und Raserei vorstellen

Annalisa Malagutti fotografiert Wassergläser und Goldfische. Dann klebt sie die Fotos auf Holztäfelchen und malt anschließend Insekten darauf. Ihre Arbeit, eine kleine Bildergeschichte, die vom Leben und Sterben erzählt, heißt „Rot“ und lässt an Jungmädchen-WGs denken, in denen bunte lustige Sachen an der Wand hängen.

Mit einer Selbstgewissheit, die sich und die Welt nicht ständig hinterfragt, weil sie aus dem Imaginationsfundus der Kindheit schöpft, greift die Künstlerin nach dem Kleinen, Verspielten und vermittelt es mit ironischer Distanz. Damit bedient sie das Klischee von der Produzentin naiver, harmloser Bilder und bricht es zugleich. Wenn sich die schwarzen Fliegen in Massen auf den eben noch friedlich schwimmenden Goldfisch stürzen, sein lebloser Körper neben dem Glas liegt und im letzten Bild ganz verschwunden ist, dann ist die Welt nicht mehr heil, aber immer noch ganz hübsch. Die Italienerin zeigt: Auch im Niedlichen ist der Tod anwesend.

Malagutti, Jahrgang 75, hat es verstanden, die Cleverness der postfeministischen Befindlichkeit in ihren Bildern sprechen zu lassen. Die Girlies machen einen nicht unwesentlichen Teil der materialreichen Gruppenausstellung „Il furore dei novanta“ aus, die derzeit im Kunsthaus Tacheles zu sehen ist. 34 italienische Künstlerinnen und Künstler, die meisten von ihnen zwischen 1965 und 1975 geboren, präsentieren mit Wucht und Frische ihre Arbeiten, deren Ideen und Formensprache im Einzelnen stark differieren.

„Il furore dei novanta“, was so viel wie die Begeisterung oder Raserei der Neunziger bedeutet, und von den Ausstellungsmachern des Tacheles recht frei mit „Die blaue Begeisterung“ ins Deutsche übertragen wurde, versammelt Ölmalerei, Fotografie, Objekte und Installationen. Augenfällig ist die Kraft, mit der die Künstler ihre Ideen formal umsetzen: Keine kopflastige, postmodern subjektkranke Dünnbrettbohrerei, kein pubertärer Ausbruch, der im Sinne eines „Anything goes“ als Verweis auf soziale Missstände durchgeht, keine benutzten Tampons à la Tracey Emin sind hier zu finden.

Sicher, die Implikationen existieren: Sozial- und kulturkritische Bezüge sind tendenziell vorhanden. Zum Beispiel wenn Paolo Picozza in seinem ölgemalten Triptychon einen Mann namens Gaetano Bresci, „Anarchist und Königsmörder“, ehrt, und ihn wie einen sterbenden Flugsaurier darstellt.

Lucia Galati inszeniert sich im weißen Gewand als Engelsseherin, Sophie Usunier baut ein stachliges Ding aus Metall, Magneten, Plastik und Nadeln und nennt es „Der Liebhaber“. Das alles ist fröhlich und hat doch das Messer schon geöffnet in der Hand. Spätestens bei Davide La Roccas Arbeiten, realistischer Malerei, springt die Bedrohung direkt aus dem Bild: Wenn die Gesichter mit den weißen Kopfbedeckungen – sind es Ärzte im OP oder Irre in der Anstalt? – durch ein Vergrößerungsglas auf den Betrachter schauen, dann hat man das ungute Gefühl, nicht mehr nur draußen zu sein.

JANA SITTNICK

„Il furore dei novanta“, bis 12. November, Mi – So 14 – 22 Uhr, Kunsthaus Tacheles, Oranienburger Straße 54