die stimme der kritik
: Betr.: Der Kuss als Wahlkampfinstrument

I don’t have to be rich to rule the world

Das mag Ihnen jetzt vielleicht bekannt vorkommen: Al Gore, der demokratische Präsidentschaftsaspirant in den USA, hat seine Frau Tipper ausführlich und in aller Öffentlichkeit geküsst. Es handelte sich hierbei allerdings nicht um das als „The Gore Kiss“ in den amerikanischen Medien kontrovers diskutierte „Kuss-Phänomen“ vom demokratischen Parteitag im August. Eigene Internet-Diskussionsforen sind seinerzeit gegründet worden, um endgültig zu klären, ob der Gore-Kuss nun Ergebnis geschickter Planung war oder Ausdruck spontaner Lebensfreude und Zuneigung. Und während die Diskussion darum noch nicht beendet ist, hat Gore es wieder getan. Und wieder. Und wieder.

„Während einer Reise durch den US-Staat Michigan küsste er seine Frau Tipper mehrfach auf der Bühne, und Tipper kündigte ihren Mann an als die ‚Leidenschaft meines Lebens und als jemand, der Leidenschaft in Ihr Leben bringen kann‘ “, weiß die Nachrichtenagentur AP zu berichten. Und als sei das nicht bereits unappetitlich und aufgesetzt genug, setzt AP bzw. Gore noch eins drauf: „Das Paar küsste sich auch im Bus, während er einigen Fernsehstationen Interviews gab.“

In gewisser Weise erinnert dieses Verhalten an zwei fünfzehnjährige KlassenkameradInnen des damals ebenfalls fünfzehnjährigen Autors: Diese beiden wussten nichts Besseres mit ihrem jungen Glück anzufangen, als es ständig öffentlich und zur Zermürbung aller partnerlosen Anwesenden zur Schau zu stellen: auf dem Pausenhof. Nach der Schule. Vor der Schule. Auf dem Schulweg. Am Bahnhof. In der S-Bahn. Dabei ging es nicht mal um eine Klassensprecherwahl. Verbitterten Zeugen blieb nur stoisches Wegsehen; war das wegen andauernder Schmatzgeräusche nicht möglich, half nur ein konsequenter Walkman-Einsatz bei geschlossenen Augen.

So etwas nervt. Und wäre dabei so leicht zu ändern: Bill Clinton hat es seinem Vize doch vorgemacht, wie man sich diskret küssen lässt und dabei den Mund für wichtige Amtstelefonate freihält. „Get a room!“, sagen die Amerikaner normalerweise zu öffentlichkeitswirksam Lippen pressenden Zeitgenossen – die sollen sich doch ein Zimmer besorgen. Dass die Kussbude im Fall Gore das für geschlechtliche Aktivitäten offenbar besonders gut geeignete Oval Office des Weißen Hauses sein wird, ist nur aus einem einzigen Grund wünschenswert: George W. Bush ist, obschon diskreter, noch widerwärtiger.

STEFAN KUZMANY