: Politischer Expressionismus
DAS SCHLAGLOCHvon MICHAEL RUTSCHKY
„Bei schweren Straßenkämpfen nach den Freitagsgebeten im Westjordanland wurden drei Palästinenser getötet; mehr als 160 weitere Palästinenser wurden bei den Zusammenstößen verletzt, viele von ihnen schwer. Nach Auskunft eines Krankenhaussprechers erschossen israelische Soldaten einen 25-Jährigen nahe der Stadt Tulkarem sowie einen 15-Jährigen in Kalkilja im Norden des Westjordanlandes. Auch in Ramallah wurde ein Mensch getötet. Allein in Bethlehem und Kalkilja im Westjordanland wurden 38 Palästinenser verletzt. Auch im Gazastreifen wurden mindestens sieben Palästinenser durch Schüsse israelischer Soldaten verwundet.“ Süddeutsche Zeitung, 28./29. 10. 2000
„Es wird ein anderer Zugang gesucht, anknüpfend an A. G. Dekker, Gewalt als zweckfreie Verhaltensstruktur (doellore dedragsstrucktur). Dekker sagt: Geweld is op politiek-economisch nievau een gedrag van hat type inting op het gebied van de individuelle psyche (Gewalt ist auf der politisch-ökonomischen Ebene Verhalten vom Typ „Äußerung“ auf individualpsychischem Gebiet).“Alexander Kluge:Neue Geschichten. Hefte 1 – 18. „Unheimlichkeit der Zeit“ (1977)
Stets muss man im Lauf der Jahre ausprobieren, wie sich die Gegenmeinung zu der anfühlt, der man die ganze Zeit angehangen hat. Und so begann ich irgendwann die Sache der Palästinenser zu verteidigen – da hatten sie die Flugzeugentführungen und Attentate schon aufgegeben, so dass einem keine ganz und gar unmöglichen Rechtfertigungsaufgaben mehr bevorstanden. War den Palästinensern nicht wirklich auf höchst dubiose Weise ihr Land abhanden gekommen? Hatten sich die Israelis nicht aufgeführt wie klassische Kolonisatoren, die irgendwo bedenkenlos eindringen und fremdes Land besetzen und meinen, es sei leer, dort lebe niemand, dessen Rechte zu berücksichtigen seien?
So hegte unsereins – gestartet als überzeugter Anhänger Israels, waren nicht die Kibbuzim der einzige freiheitliche Versuch mit dem Sozialismus? –, so hegte unsereins Sympathie für die erste Intifada. Auch stand sie in der Tradition jugendlicher Protestbewegungen, zu der man ja Fühlung hatte, selbst wenn das eigene Jugendalter vorbei war. The kids are allright, sagte man sich beruhigt. Freilich führte das alles zu nichts als immer denselben Zeitungsnachrichten und Fernsehbildern (zu denen es auch jetzt führt). Zwar war unsereins von Habermas’ Grundgedanken, Kommunikation, auch politische Kommunikation, müsse irgendwann in Konsensbildung enden, längst abgekommen. Aber eine Anschlussmöglichkeit sollte der Protest doch bieten, nicht wahr? (Das war ja für unsereinen der Ausweg aus Habermas’ Konsensfalle: Luhmanns Anschlussfähigkeit.)
Die Kommunikation soll weitergehen und sich nicht immer in demselben Ausdruck – auf den TV und Zeitung so scharf sind – erschöpfen. Aber augenscheinlich sahen das die Palästinenser ganz anders (soweit sie „kämpften“, das heißt, jene expressionistischen Medienerzählungen generierten), und als sie dann im zweiten Golfkrieg jede Scud-Rakete bejubelten, die Saddam Hussein nach Israel schoss, da zog unsereins alle Sympathie zurück. Ich fürchte, sagte unsere Freundin Jutta, von jetzt ab finde ich alles korrekt, was Israel tut oder lässt. (Und dabei stand uns Bibi Netanjahu erst noch bevor.)
So lohnt es, über den politischen Expressionismus nachzudenken, in dem sich so viele Protestbewegungen verausgaben.
Es scheint gar nicht um definierbare Ziele zu gehen (auch nicht utopische). Es geht um den unbedingten Ausdruck eines politischen Willens, von dem sicher ist, dass er undurchsetzbar bleibt. Am Ende garantiert genau diese Undurchsetzbarkeit die Schönheit und Wahrheit jenes politischen Willens. Seine Militanz aber wird zum höchsten expressionistischen Wert.
Die baskische ETA hat, wenn ich richtig sehe, in unseren Kreisen mit diesem Verfahren nie wirklich Anhänger gewonnen; auch was IRA und das protestantische Gegenstück in Nordirland treiben, stößt im Wesentlichen auf Verständnislosigkeit. Ebenso obskur bleibt der tschetschenische Wille – aber hier offenbart sich eine andere Reaktionsmöglichkeit. Man fragt nicht nach Inhalt oder Anschlussmöglichkeit des militant auftretenden politischen Willens, man erhebt Vorwürfe gegen die andere Seite. So war’s ja schon mit der Intifada; so verhält es sich auch jetzt mit den Tschetschenen: Weil hier niemand weiß, was sie mit ihrem Kampf zum Ausdruck bringen wollen, wenden sich alle Kritik und Aufmerksamkeit der russischen Brutalität zu.
Es mag sein, dass der politische Expressionismus in den größeren Zusammenhang des Opferkults gehört. Dann kann man als politischen Expressionismus auch lesen, was von sich aus ohne entsprechende Absicht war: So machen sich manche Medienfuzzis gern zu Fürsprechern dieser oder jener Entrechteten – de facto können sie denen natürlich zu keinerlei Recht verhelfen; aber dass all die Ausgeschlossenen und Verlierer eine unbedingte Opposition gegen den Lauf der Dinge ausdrücken, lässt sich um so leichter behaupten. So dürfen wir jeden Bettler in der U-Bahn für einen Kritiker der Globalisierung halten.
In den späten Sechzigern wurde das als „Randgruppenstrategie“ diskutiert. Ulrike Meinhof versuchte, bevor sie zur RAF stieß, die ungelenkte Wut und Lebensenttäuschung von Fürsorgezöglingen und Jungdelinquenten im Sinne des politischen Expressionismus zu nützen.
Die Rote Armee Fraktion selbst bildete dann natürlich eine von dessen Aufgipfelungen: Was sie wollten, außer „kämpfen“, darüber schwieg sie sich aus. Und unsereins verlegte sich hilflos auf die Kritik der unmäßigen staatlichen Gegenmaßnahmen (darauf muss sich jetzt auch die kritische Fraktion in Israel beschränken). Was die „Randgruppenstrategie“ angeht, machen wir aus dem Schweigen der Verlierer den Ausdruck von Fundamentalopposition, so hat nicht nur Alexander Kluge aus den Siebzigern komische Geschichten zu erzählen. Mein Freund Theckel fiel damals auf einen schönen, alten Mann herein, der es fertig brachte, sich als Mitkämpfer der großen Oktoberrevolution darzustellen.
Selbstverständlich hatte er, der an der Seite des Genossen Trotzki gekämpft, aus Stalins Reich fliehen müssen und in Deutschland nie Fuß gefasst. Auch die DDR bot ihm keine politische Heimat, und in der BRD Arbeit zu finden, war er dann schon zu alt. Also keinerlei Rente, sondern Angewiesensein auf Solidarität, die Unterstützung politischer Sympathisanten ...
Es dauerte eine Weile, bis der junge Theckel herausfand, dass sein Protegé ein Hochstapler war. Wahrscheinlich hatte er Franz Jungs Autobiographie „Der Torpedokäfer“ gelesen, die der junge Theckel sehr bewunderte. Die Umwandlung des lebensgeschichtlichen Scheiterns in politischen Expressionismus, den unbedingten Willen zur Opposition, war mit diesem Kerl jedenfalls nicht zu schaffen. Schon genaueres Nachrechnen seines Lebensalters hätte ihn überführt. So verlor der junge Theckel nicht nur seinen Glauben an die „Randgruppenstrategie“, sondern auch ein paar Vermögenswerte. Und das schmerzte den Studenten doch sehr.
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