Abschied vom Lieblingskind

Dass sich die Grünen ausgerechnet in der Folge der Leitkultur-Debatte vom Begriff des Multikulturalismus verabschieden, ist schierer Opportunismus

Von EBERHARD SEIDEL

Die Grünen haben sich von einem ihrer Lieblingskinder verabschiedet – der Multikultur. Der Begriff, so Künast, sei zu „unscharf“ und greife zu kurz, „weil er sich nicht auseinander setzt mit der Frage: Nach welchen Regeln leben wir?“

Verwundert reibt man sich da die Ohren und fragt sich: Sollte der Begriff, den Daniel Cohn-Bendit und Heiner Geißler in den 80er-Jahren in die bundesdeutsche Diskussion einführten, dies leisten? Natürlich nicht. Bereits lange vor „Multikulti“ hatte die Republik ihre verbindlichen Regelwerke des Zusammenlebens, denen sich jeder Einwanderer zu fügen hatte – niedergeschrieben im Grundgesetz, dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem Strafgesetzbuch.

Über Sinn und Unsinn des Begriffes Multikultur lässt sich trefflich streiten, aber ein Verdienst ist unstreitbar: Er machte allen Bürgern deutlich, diese Gesellschaft ist nicht mehr homogen deutsch und christlich. Schon bald wachsen hier Generationen von Kindern heran, die mehrheitlich aus Familien mit Migrationshintergrund kommen. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen – in den Schulen, den Universitäten, dem Stadtteil und in unserem Selbstverständnis.

Vor allem für die Grünen mit ihrem gebrochenem Verhältnis zur Nation und ihrem ungeliebten Deutschsein war der Begriff identitätsstiftend. Auch taugte der Begriff in der Auseinandersetzung mit all jenen, die eine deutsche Leitkultur völkisch definierten. Zur Erinnerung: Im Mai 1989 halten die Grünen ihren Parteitag in Münster unter dem Motto „Mut zur multikulturellen Gesellschaft – Gegen Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit“ ab. Es war ein richtiges Zeichen zur richtigen Zeit. Denn wenige Monate zuvor, im Januar, zogen die „Republikaner“ in das Abgeordnetenhaus in (West-)Berlin ein. Rassistische Übergriffe und rassistische Sprüche aus der politischen Mitte häuften sich. Die Grünen, sie waren ein verlässlicher Partner, wenn es darum ging, den Belangen von Flüchtlingen und Migranten ein Gehör zu verschaffen.

Gleichzeitig haben die Grünen aber auch viel zur Ideologisierung der Ausländerdebatte beigetragen. Nicht nur die ausländerpolitischen Hardliner aus den Volksparteien brauchten und brauchen die Einwanderer offensichtlich zur Selbstvergewisserung, auch viele Grüne verstanden es hervorragend, Ausländer für eigene Interessen zu instrumentalisieren. Und sei es nur, um Selbsthass und Abneigung auf alles, was deutsch ist, zu nähren.

Bei den großen Debatten um „offene Grenzen“ oder „Doppelte Staatsbürgerschaft“ war die politische Selbstbefriedigung wichtiger als das Anliegen der Betroffenen. Ein Beispiel: Auf dem 89er Parteitag wurden die Anträge, die für eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts plädierten, niedergestimmt und mehrheitlich für die Maximalforderung „Offene Grenzen“ votiert. 1992 sprach sich der Parteitag erneut für „offene Grenzen“ und gegen ein Einwanderungsgesetz aus. Daniel Cohn-Bendit sah nun „die Grenze zum gemeingefährlichen Unsinn“ überschritten und erklärte: „Ich bin politisch heimatlos.“

Die Partei war in Fragen der Einwanderungspolitik seitdem heillos zerstritten, und bis heute liegt die innerparteiliche Diskussion über die Einwanderungsgesellschaft darnieder. Der Begriff der Multikultur wurde zur inhaltsleeren Phrase. Auf der Strecke blieben so wichtige Fragen: Wie können wir die Bevölkerung für unsere Forderung einer emanzipativen Ausländerpolitik gewinnen? Wie verlaufen die Konfliktlinien in einer multikulturellen Gesellschaft? Wie können die Interessen der Neu- und der Altbürger ausgeglichen werden? Schlimmer noch: Die Grünen haben weder auf das Problem der Sprachförderung und der Bildungsmisere vieler Kinder aus Migrantenfamilien eine Antwort. Noch haben sie sich mit der gebotenen Ernsthaftigkeit der drängenden Frage gewidmet, welchen Platz zum Beispiel der Islam zukünftig in dieser Gesellschaft einnehmen wird.

Seit den Neunzigerjahren haben die Grünen keine neuen Impulse geliefert. Die rituelle Geißelung des Rassismus ersetzte die intelligente Debatte, wie die Einwanderungsgesellschaft politisch auszugestalten sei.

Einzig das Projekt einer Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wurde in den Neunzigerjahren noch konsequent verfolgt. So konsequent, dass man die Reform mit der törichten, weil ideologischen Fixierung auf die doppelte Staatsbürgerschaft fast noch in den Sand setzte. Roland Koch (CDU) nahm die grüne Vorlage an und organisierte fünf Millionen Unterschriften und damit das erfolgreichste Plebiszit der Nachkriegszeit. Koch – ein grünes Trauma. Seitdem wagt kaum noch ein Grüner das Wort Einwanderung oder Ausländer in den Mund zu nehmen. Weder in der Green-Card-Debatte noch zu der Frage eines Einwanderungsgesetzes war von den Grünen Gewichtiges zu hören. Und welcher Grüner fordert heute noch öffentlich ein Antidiskriminierungsgesetz?

Nun hat die Parteivorsitzende Renate Künast sich zu Wort gemeldet und von der Multikultur verabschiedet. Zu spät. Noch vor ein paar Monaten hätte man es gutwillig als Signal des Aufbruchs in einer eingeschlafenen Debatte werten können. Nach der Erregung um „Leitkultur“ (Merz) und „Ich liebe Deutschland“ (Zimmer) ist es schierer Opportunismus. Künasts Botschaft: Wir bleiben in der Mitte, dort, wo es warm ist.