„Hey, das ist hip!“

Die Fackel weitertragen: Der Saxofonist James Carter ist Star des Berliner Jazzfests 2000. Ein Gespräch über Vermächtnis und Fortschritt im Jazz

taz: Ihr markanter Saxofon-Sound ist Ihr Markenzeichen, Sie selbst bezeichen ihn als „Vocalization“. Wofür steht das?

James Carter: Das oberste Ziel der Instrumentalisten ist doch, die menschliche Stimme nachzuahmen. Sängerinnen, die mich geprägt haben, sind Ella Fitzgerald und Sarah Vaughan, besonders aber Billie Holiday mit ihrer Art, bestimmte Nuancen in ihre Stücke zu bringen. So was hält wach und prägt sich ein.

Den Trompeter Lester Bowie haben Sie des Öfteren als Ihren Mentor bezeichnet. Warum?

Lester brachte mich vor zwölf Jahren nach New York. Damals hatte ich eine harte Zeit in meiner Heimatstadt Detroit; verschiedene Clubs schlossen, es wurde einfach immer trostloser. In New York kann man in einem Club eine ganze Woche lang spielen, in Detroit dagegen ist heute bestenfalls am Wochenende noch etwas los – wenn man von den vier Tagen im Jahr, an denen das Monterey-Festival stattfindet, einmal absieht.

Es war einfach sehr wichtig, in New York die Möglichkeit zu haben, bei Jamsessions dabei zu sein und sich sowohl ältere als auch junge Kollegen anzuhören und mit ihnen zu spielen.

Auf Ihren Alben interpretieren Sie oft unbekanntere Titel namhafter Komponisten. Hat das einen besonden Grund?

Mir gefallen halt die obskuren Geschichten. Der Sänger und Jodler Leon Thomas, der im vergangenen Jahr gestorben ist, hatte etwa einen ganz speziellen Gesangsstil. Ab und zu sah ich ihn in Harlem, da gibt es im St. Nicks Pub montags immer diese hippen Jam-Sessions. Wenn er gut drauf war, stand er auch mal auf und sang. Sobald er ansetzte, verstummten alle Unterhaltungen.

Fühlen Sie sich als Bewahrer ein untergehenden Tradition?

Auch wenn mein Herz momentan mehr für Funk und Groove schlägt – ich komme vom Jazz, dort sind meine Wurzeln. Indem ich alte und weniger bekannte Stücke ausgrabe, versuche ich, Geschichte zu dokumentieren. Im Original sind das manchmal ganz kurze Stücke von zweieinhalb Minuten, die man heute natürlich beliebig verlängern kann. Bei allem, was ich tue, geht es mir darum, meinen Publikum den Spirit des Jazz nahe zu bringen.

Sind Sie denn selbst mit altem Jazz aufgewachsen?

Als ich zu spielen anfing, kannte ich den Saxofonisten Buddy Tate und den Trompeter „Sweets“ Edison, die auf meinem Album „Conversin’ With The Elders“ dabei sind, nur aus Büchern, von Fotos oder aus dem TV-Programm „Jump Street“. Dort, so um 1981 herum, sah ich „Sweets“ Edison und Buddy Tate zum ersten Mal, und sie beeindruckten mich total in ihrer coolen, relaxten Haltung – es steckte etwas Majestätisches und eine Menge Stolz in ihrer Musik. Ich traf die beiden dann 1986, und für mich war es, als würden sie aus dem Buch heraustreten, wirklich beeindruckend. Es war enorm, dass sie immer noch mit so gute Vibes hatten. Wir tauschten dann eine Menge aus, und Buddy Tate ließ mich sogar auf seinem Horn spielen. Ich dachte nur: „Hey man, this is hip!“

Wo sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Avantgarde und Tradition im Jazz?

Der einzige Grund, warum ich den Begriff Avantgarde überhaupt verwende, liegt darin, dass die Leute immer irgendeine Art von Kategorisierung haben wollen. Wenn man aber mit den alten Musikern zusammen spielt, dann stellt man fest, dass es eine Kontinuität gibt, die sämtliches Schubladendenken überflüssig macht – da finden sich deutliche Ähnlichkeiten im Spiel von Lester Bowie und Harry Sweets Edison, man muss nur mal hinhören. Wenn darauf mehr Energie verwendet würde, wäre schnell klar, dass alle Teil eines Ganzen sind, nur eben zu unterschiedlichen Zeiten.

Drückt Ihr Album „Conversin’ With The Elders“ diese Botschaft aus?

Die Kommunikation und Auseinandersetzung mit den älteren Musikern ist mir sehr wichtig. Man kann, indem man mit ihnen spricht, viel aus ihren Erfahrungen lernen und, indem man etwas von ihnen weiterträgt, ihre Existenz untermauern.

„Conversin’ with the Elders“ war auch ein Versuch, anderen aktiv Tribut zu zollen, während sie noch unter uns sind. Leider merken viele Leute immer erst nach dem Tod von bestimmten Persönlichkeiten, wie hip diese eigentlich waren.

Nach dieser Aufnahme gelang mir übrigens, genau das Selmer-Horn zu erstehen, das Buddy Tate einst spielte, als er in die Count Basie Band kam. Damals, 1938, war dieses Horn brandneu. Für mich ist das fast so, als würde ich symbolisch eine Fackel weitertragen, wenn ich dieses Horn jetzt spiele. INTERVIEW:
CHRISTIAN BROECKING