Odessa – Wolfsburg

Mit dem Drehteam der Filmemacherin Ulrike Ottinger auf Reisen quer durch Osteuropa (II): Frauen als Lebenskünstlerinnen einer Hafenstadt im Umbruch. In Odessa wird von der Plastiktüte über die Datscha bis zum eigenen Körper alles zur Ware. Oder wie die Globalisierung einer Metropole ihre ganz alltäglichen Borderline-Existenzen hervorbringt

von KATHARINA SYKORA

Auf den ersten Blick prägen in Odessa die Frauen das Stadtbild. Sie erscheinen als sichtbar Handelnde in einer Gesellschaft, die zunehmend von geheimen Parallelgesellschaften reguliert wird. Ihre Sichtbarkeit ist Reflex der sozialen Verwerfungen, die die Ukraine in den letzten zehn Jahren durchlebt hat. Ihre Aktivitäten sind Gratwanderungen, die sich stets hart an der Grenze des Scheiterns bewegen.

Mobilia und Immobilia: Auf Odessas Straßen und Plätzen sind viele Frauen Händlerinnen all dessen, was nach dem staatlichen Ausverkauf der großen Ressourcen nun aus privater Hand entäußert werden kann. Am Ploshka-Hretsky-Platz stehen sie und bieten ihre Häuser und Wohnungen in der Stadt und auf dem Land zur Miete und zum Kauf an. Vor riesigen Tafeln, übersät von unzähligen Zetteln mit Angeboten, laufen sie gelassen durch die dichte Menge und halten ihre Schildchen vor der Brust. Darauf wird hier mit Handschrift eine Wohnung, dort durch ein Foto die kleine Datscha am See feilgeboten. Die Anbieterinnen tragen ihre besten Kleider, sie stehen persönlich für die Qualität ihrer Immobilien ein.

Eine Frau möchte sich durch den Erlös die Auswanderung nach Stuttgart finanzieren, wo ihr Sohn lebt. Ökonomische Mobilität scheint der erste Schritt zur Glückserfüllung. Der Ort ihrer Einlösung jedoch liegt nicht mehr in Odessa, sondern in Halle, Rüsselsheim oder Wolfsburg. Auf der Flaniermeile Odessas – zwischen Restaurants, Spielautomaten, Straßenmusikanten und Karaoke-Sängern – tragen viele junge Frauen eine andere Ware zur Schau: sich selbst. Ihre am Schönheitsideal der internationalen Modejournale geschulten Körper lassen sie freizügig durch die transparenten Stoffe hochaktueller Kleider sehen. Die halsbrecherischen Absätze machen jeden Schritt zur Zelebration mobiler Gesamtkunstwerke: Sexualität pur exponiert sich wie ein hochprozentig gefülltes Praliné.

In Arkadia, dem Schwarzmeerstrand Odessas, ist die Situation expliziter. Hoch über dem Sand, der zwischen sonnenbadenden Menschen, spielenden Kindern und Kuchen- oder Muschelverkäufern kaum sichtbar ist, schwebt wie eine Theaterkulisse aus Styropor „Ithaka“, eine gelb bemalte antike Neoruine. Sie ist heute für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, lässt man uns am Eingang wissen. Ein schwarz gekleideter Bodyguard, der seinen Gummiknüppel aggressiv im Takt der Discomusik schwingt, lässt jeden Zweifel an der Gültigkeit der Aussage schwinden. Modisch gekleidete junge Odessiterinnen mit Namensschildern gehen ein und aus. Andere werden – angeschmiegt an die steinernen Männerstatuen dieser Potemkin’schen Akropolis – von wendigen Fotografen abgelichtet. Drei der Mädchen erzählen schließlich, dass es sich um die „Privatveranstaltung eines Heiratsvermittlungsunternehmens“ handle, das „von einer Agentur speziell ausgewählte Anwärterinnen“ mit amerikanischen Männern zusammenbringe. Außer den Organisatoren haben sie heute allerdings noch keinen westlichen Mann zu Gesicht bekommen. Wie die Vermittlung konkret aussieht und was mit den Fotos geschieht, wissen sie nicht.

Auf dem Hauptmarkt Odessas gibt es zahllose Händlerinnen und Verkäuferinnen. In der Fischhalle spricht uns eine gut gekleidete Frau auf Englisch an und bietet uns Deodorants zum Kauf. Sie erzählt, sie arbeite als Angestellte in einem computerisierten Büro, sei jedoch verwitwet und müsse für sich und ihre zwei Kinder ein Zubrot als fliegende Händlerin verdienen, weil das Gehalt gerade für die Miete reiche. Sie fragt uns, ob es wahr sei, dass nun, wo die Perestroika die Grenzen geöffnet habe, die deutschen Männer ganz wild seien auf russische Frauen. „Truth or Joke?“, lautet ihre mehrfache Zwischenfrage. Dabei lacht sie und prüft gleichzeitig genau unsere Reaktion. Sie möchte sich die Illusion dieses Ausweges aus ihrer Misere nicht ganz nehmen lassen und ist gleichzeitig lebensklug genug, um keinen Märchen mehr aufzusitzen.

Für viele Frauen Odessas ist auch das bloße Gedankenspiel mit der Illusion vorbei. Die Fischverkäuferin, über deren verschmitztes Gesicht wir uns freuen, sagt es ganz deutlich: „Der berühmte Odessiter Humor, er ist uns gründlich und endgültig vergangen!“ Ähnlich wie die 81-jährige Plastiktütenverkäuferin, die Fleischfrau, die früher Lehrerin und elf Jahre lang Schuldirektorin war, oder die zahllosen alten Bettlerinnen können viele ihre Existenz kaum mehr sichern. Die Ledermantelhändlerin, die täglich neben den alten Militär-Lkws in der staubigen Hitze einen illegalen mobilen Stand aufbaut, formuliert es so: „Die Männer sind entweder verstorben oder sie trinken. Unsere Kinder finden keine Arbeit und geraten rasch an Drogen. Wir sind die Einzigen, die versuchen, alles aufrechtzuerhalten. Aber auch das stößt an Grenzen. Wir verkaufen kaum etwas.“

Odessa ist Hafenstadt. Hier wurden die Grenzen am schnellsten durchlässig für die ökonomisch dominierten Einflüsse von außen. Nicht zuletzt durch seine Frauen ist Odessa ungemein lebendig. Sie scheinen die Stadt vor dem Schlimmsten zu bewahren, indem sie die Effekte des Wandels im täglichen Leben abfedern. Ohne sie wäre die Stadt nur mehr Nekropole ihres Mythos, der von den Beschreibungen der Literaten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und Eisensteins revolutionärer Filmvision des „Panzerkreuzer Potemkin“ zehrt. Mit den Frauen als Lebenskünstlerinnen permanenter Borderline-Existenz ist Odessa in der globalisierten Gegenwart angekommen.

Der erste von Ulrike Ottinger geschriebene Bericht erschien am 12. 10. unter dem Titel „Ost-Süd-Ost im Minibus“