Jagdsaison in Deutschland

Die Parteien streiten fröhlich über Leitkulturen und das Ende von Multikulti. In diesem Deutschland fühlen sich die Ausländer so ausgegrenzt und unsicher wie nie zuvor

„Lieber Ümit, lieber Mustafa,geht nach Hause, wir brauchen eureArbeitsplätze“

Nie zuvor in der Nachkriegszeit war die Unsicherheit und Angst unter den Ausländern in Deutschland so groß wie heute. Auch die Ausländer, die seit Jahren hier leben und sich in der Vergangenheit an einiges gewöhnt haben, sind besorgt. Daniel Barenboim hat für alle gesprochen, als er letzte Woche sagte: „Ich beginne, an der Demokratie in Deutschland zu zweifeln.“

Es sei alles nicht so schlimm, sagen die liberalen Deutschen. Da gäbe es zwar einige Spinner, aber der Großteil der Deutschen sei nicht rassistisch. Falsch. Die Weißen, auch die aufgeschlossenen, können sich nicht in die Lage von farbigen Ausländern versetzen. Selbst der Spiegel, der ein ambivalentes Verhältnis zum Thema Ausländer hat, schrieb gerade: „Das Feindbild Fremder ist tief im deutschen Bewusstsein verankert.“ McDonald’s wirbt für seine chinesische Woche mit Worten wie SUPEL und PLIMA, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Ist ja bloß ein halmlosel Schelz. Harmlos wie der alte Herr, der in einem überfüllten Bus in Dortmund mit dem Zeigefinger eine halsabschneidende Bewegung gegenüber einer Familie aus Sri Lanka macht. Deutsche Leitkultur im Alltag.

Alarmierend ist es auch, dass Ausländer sich nicht mehr trauen, die neuen Bundesländer zu bereisen. Die Mauer ist im Namen von Freiheit und Demokratie abgeschafft worden. Doch heute ist sie höher als damals. Zunehmend fliehen Ausländer über die unsichtbare Mauer. Der Inder Jarnail Singh etwa musste über Nacht sein Restaurant in Meerane bei Zwickau schließen, und mit Frau und vier Kindern nach Westdeutschland fliehen. Er hatte Glück im Unglück. Eine mutige Diplomatin des Auswärtigen Amtes nahm die Familie bei sich auf.

Die Journalistin Inge Deutschkron, eine Überlebende des Holocaust, sieht derzeit gewisse Parallelen zu den Weimarer Zeiten. Im Namen von Recht und Freiheit durften die Nazis damals demonstrieren und Hass gegen die damaligen Inlandsausländer, die Juden, schüren. Alle haben zugeschaut, und andere Demonstranten wurden durch die Reichspolizei in Schach gehalten.

Heutzutage dagegen soll es den Aufstand der Anständigen geben, am 9. November natürlich – aber auch vor einigen Tagen in Dortmund sollte dafür demonstriert werden. Für 102 SchülerInnen einer Gesamtschule jedoch, die mit 20.000 anderen Protestlern gegen 600 Neonazis demonstrierten, wurde dieser 21. Oktober zu einer bitteren Lektion in Sachen Demokratie. Sie wurden von der Polizei geschlagen und beschimpft und obendrein bis in den späten Abend festgehalten. Als sie freikamen, fielen sie weinend und erschüttert in die Arme ihrer Eltern. Bald will die Polizei sämtliche Videoaufzeichnungen sichten und die Ergebnisse der Staatsanwaltschaft vorlegen. „Dienen diese Aufnahmen möglicherweise dazu, unsere Töchter und Söhne schon als Jugendliche in Polizeikarteien als gewaltbereite Extremisten zu brandmarken?“, wollten Eltern wissen. Antwort eines Polizeisprechers: „Das Ergebnis kann sie nach der Auswertung des Bildmaterials ebenso gut entlasten.“ Die Botschaft ist klar: Bleibt nächstes Mal besser zu Hause!

Die Politiker machen es plumper. Sie nutzen den latenten Rassismus vieler Bürger, um Stimmung gegen Ausländer zu machen. Die Wahlen finden zwar erst 2002 statt, aber jetzt schon streiten sie darüber, ob Einwanderung und Asyl Wahlkampfthemen sein sollen. Wie makaber dies sein kann, zeigten die NRW-Wahlen letztes Jahr. Der Wahlkampf wurde auf dem Rücken von Indern ausgetragen, die in Indien saßen und wohl nicht mal wussten, wo Düsseldorf liegt.

Diesmal hat nun Friedrich Merz die Jagdsaison eröffnet, mit einer Variante des germanischen Gedankenguts „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“. Der deutschen Leitkultur – einem Begriff, genauso belastet wie Lebensraum und Untermenschen – sollen sich die Fremden unterwerfen. Was diese Leitkultur beinhaltet, wird nicht gesagt. Schäferhund anschaffen, Lederhosen tragen, Pornografie konsumieren oder Goethe und Schiller auswendig lernen?

Dass CDU/CSU-Politiker so etwas von sich geben, ist eine Sache. Aber wie die SPD und die Grünen dazu stehen, das ist Besorgnis erregend. Wenn man den Auftritt von Ute Vogt und Rezzo Schlauch bei Sabine Christiansen als Maßstab nimmt, bekommt man den Eindruck, dass dieses Gedankengut auch begrenzte Zustimmung in der Koalition hat. Thomas Goppel (CSU) wurde nicht widersprochen, als er vor einer Parallelkultur warnte, vor Koranschulen und Frauen, die zwei Schritte hinter ihren Männern gehen müssten. Er fragte Frau Vogt, ob sie heute Abend hätte mitdiskutieren dürfen, wäre sie Teil dieser Kultur? Von Ute Vogt hätte man mehr erwartet, als sich zum Thema Emanzipation von einem CSU-Politiker belehren zu lassen. Christiansen, Schlauch und Vogt taten fast nichts, um Rüttgers oder Goppel zur Definition des Kampfbegriffes „deutsche Leitkultur“ zu bewegen. Die Situation erinnerte an jenen Abend im Februar, als Erich Böhme versprach, den Mythos Haider zu entzaubern. Nur: Haider entzauberte den Mythos Böhme.

In Sachen Emanzipation sollten die Deutschen jedoch vorsichtig sein. Oder ist es damit gemeint, dass fast jedes Produkt mit einem dreiviertelnackten Frauenkörper angepriesen wird? Auch der Spiegel hat es nötig, einen knackigen Frauenpo auf dem Sattel, als Titelbild zum Thema Fahrradkultur in Deutschland, zu präsentieren.

Koranschulen und dergleichen im Zusammenhang mit der Leitkultur zu diskutieren, ist ebenfalls äußerst unpassend. Die 450.000 bis 500.000 ausgesuchten Einwanderer sollen ja hoch qualifizierte Fachkräfte aus Osteuropa und Asien sein. Sie werden sicherlich mehr über Goethe und Schiller wissen als manche Deutsche.

Übrigens, war es nicht die CDU/CSU, die in den 60er-Jahren begonnen hat, die türkischen Gastarbeiter hierher zu holen, damit die Wirtschaft weiter boomen konnte? Den Geldzüchtern der Nation war es egal, dass diese Menschen hier isoliert waren. Integration war kein Thema. Sie waren gerade gut genug für Arbeiten, die keiner machen wollte.

Merz nutzt den latenten Rassismus vieler Bürger, um Stimmung gegen Ausländerzu machen

Mit fast 4 Millionen Arbeitslosen sind nun viele Deutsche wieder bereit, ihren Müll selbst abzufahren. Anstatt das Parallelgesellschaft-Argument vorzuschieben, wäre es ehrlicher zu sagen: „Lieber Ümit, lieber Mustafa, geht nach Hause, wir brauchen eure Arbeitsplätze.“

Es gibt auch einen einfacheren Weg, die Menschen, die der deutschen Leitkultur nicht folgen wollen, loszuwerden. In den städtischen Kliniken Dortmund bekommt man eine Speisekarte für die diversen Mahlzeiten. Der Patient darf ankreuzen, ob er Wurstaufschnitt oder Schnittkäse zum Frühstück wünscht, Schnitzel oder Hähnchen zum Mittag usw. Die Rubrik 19 heißt schlicht und ergreifend Moslem. Wenn alle Deutschen einen Moslem zum Frühstück, Mittag und Abend bestellen, ist das Problem schnell gelöst. Aber dann würden die Politiker kein Wahlkampfthema mehr haben.

ASHWIN RAMAN