Europa ist die letzte Utopie

Heute besteht die Chance, in Europa einen Traum zu verwirklichen, der vor fünfzig Jahren begann. Wir dürfen sie nicht ungenutzt verstreichen lassen, denn das vereinte Europa steht am Scheideweg. Soll Europa den eingeschlagenen Weg zu einer wirklich politischen Union weiter beschreiten und mehr sein als ein Verwaltungsapparat, wollen wir eine wirkliche Vision der europäischen Völker schaffen? Dann müssen wir heute die Weichen für die kommenden fünfzig Jahre stellen.

Dann muss Europa weiter zusammenwachsen: nach innen, indem die Integration verfestigt wird, nach außen, indem es die mittel- und mittelosteuropäischen Staaten rasch aufnimmt. Und dazu muss sich Europa einigen Fragen stellen: der Frage nach seiner Identität und seiner Zukunft, die unauflösbar mit der Frage nach Identität und Zukunft der Menschen in Europa verquickt sind. Aller Menschen in Europa: der Europäer von heute und der von morgen, der nativen und der eingewanderten und ihrer Nachkommen.

Europa im Jahre 2000 ist ein Europa, das erst beginnt, sich selbst als eins zu begreifen. Es ist ein Europa, das beginnt, mehr zu sein als eine geographische Einheit oder ein Konglomerat konkurrierender Nationalstaaten oder eine Freihandelszone mit partiell gemeinsamer Währung.

Europa muss mehr sein als eine Handelsgemeinschaft mit enormem Wohlstandsgefälle. Soll Europa weiter Garant des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit, der Freiheit, der Menschenrechte, der ökologischen Vernunft und der Stabilität sein, muss es sowohl weitere europäische Länder aufnehmen, als auch die Integration der bisherigen Mitgliedsstaaten verstärken und unumkehrbar voran treiben.

Hierzu muss Europa sich auf eine gemeinsame europäische Verfassung einigen, das ist meine feste Überzeugung. Will Europa mehr sein als ein Geflecht multilateraler Verträge, will Europa wirklich eine Vision von Gesellschaft, Frieden und Völkerverständigung sein, benötigt es eine eigene Verfassung. Eine europäische Verfassung muss vor allen Dingen zunächst zweierlei sein:

– Eine Selbstverständigung der Europäer darüber, an welchen Werten sich ihr Zusammenleben orientieren soll. Ein Agreement über die grundlegenden verbindenden und auch identitätsstiftenden Werte Europas - angefangen bei Frieden und wirtschaftlicher Einheit bis hin zur Garantie des sozialen Staats. Dieses Agreement ist eine Art Magna Charta, ein europäischer Grundwerte- und Rechtekatalog.

– Zum anderen benötigt Europa ein Modell, einen Plan davon, wie es funktionieren soll. Denn ich versichere Ihnen: So, wie es jetzt läuft, vom Prinzip der Einstimmigkeit, über die Rolle des Europäischen Rats und die Besetzung der Kommission bis hin zur Funktion des Europäischen Parlaments –, so geht es nicht weiter. Diese Konstruktion ist nicht einmal in der Lage, die Aufgabe der Vertiefung der jetzigen Union zu bewältigen, geschweige denn zur Aufnahme weiterer Mitglieder. Europa muss seine Souveränität organisieren. Diese Verfassung zu entwickeln ist eine Aufgabe, der sich Europa jetzt unbedingt stellen muss. Sie könnte bis 2005 (1) abgeschlossen sein und so rechtzeitig zur Aufnahme weiterer Mitglieder.

Und die Verfassungsdebatte könnte auch über die jetzige EU hinaus Zeichen setzen: Um eine möglichst breite Grundlage der europäischen Magna Charta für die kommenden fünfzig Jahre zu erreichen, sollten wir schon jetzt die Beitrittskandidaten an der Debatte über diese grundsätzlichen Übereinkünfte Europas beteiligen.

Europa hat im Unterschied etwa zu den USA einen anders gelagerten wesentlichen Grundkonsens: die Verantwortung der Allgemeinheit, des Staates für den Einzelnen. Ganz Europa praktiziert soziale Demokratie, die Solidargemeinschaft ist Teil des europäischen Selbstverständnisses: vom Nordkap bis nach Sizilien zwar in unterschiedlicher Ausgestaltung und mit verschiedenen Namen. Und diese grundlegende Übereinkunft der Völker Europas ist identitätsbeschreibend und -stiftend zugleich. Sie gehört unbedingt in einer europäischen Magna Charta festgelegt.

Eine Magna Charta hat aber nicht nur verfassende Wirkung, sie dient zugleich dazu, die Menschen Europas für das Projekt einzunehmen: Sie sollen mitbestimmen, wofür sich dieses bisweilen skeptisch beäugte Bündnis einsetzen wird. Das zweite wichtige Erfordernis an eine europäischen Verfassung hat Joschka Fischer bei seiner zu Recht viel beachteten Rede an der Humboldt-Universität (2) angerissen: Europa muss nicht nur die Frage der Erweiterung angehen, sondern seine Strukturen reformieren, um funktionieren zu können.

Schon das Europa der 15 funktioniert nicht mehr: Das Einstimmigkeitsprinzip blockiert alle Fortschritte, die europäische Exekutive muss mehr sein als die Verwaltungsbürokratie für nationale Interessen. Sie muss eine politische Führung Europas werden. Dazu muss die Regierungsgewalt weg vom Rat, hin zu einer demokratisch legitimierten Kommission übertragen werden. Das Parlament kontrolliert die Kommission, und der europäische Gerichtshof garantiert die Einhaltung des europäischen Rechts. Die Gewaltverteilung, die demokratische Legitimation: das sind die Debatten, die Europa seinem Volk wieder näher bringen wird.

Europa benötigt dringend eine Verfassungsdebatte. Diese hat Joschka Fischer angerissen und nun muss sie weiter geführt werden. Ich sehe folgendes Modell: Die europäische Legislative besteht aus zwei Kammern. Die erste, das europäische Parlament, wird direkt vom europäischen Volk gewählt. Und dieses Parlament wird mit legislativen Kompetenzen ausgestattet: Alles, was europäisches Interesse ist, wird hier debattiert und entschieden. Aber auch nur das: Der Grundsatz der Subsidiarität bleibt konsequent gewahrt. Alles, was nicht europäische Zuständigkeit ist, bleibt nationalen oder regionalen Parlamenten vorbehalten. Diese Trennung muss konsequent vollzogen werden.

Politiker neigen dazu, ihre Kompetenzen zu überschreiten, sie bedürfen daher der Kontrolle. Als Kontrollinstanz dient in meiner Vorstellung zunächst eine zweite Kammer: Sie ist der Garant der Subsidiarität. (3) Die zweite Kammer wird nicht direkt vom Volk gewählt, sondern mit Repräsentanten nationaler oder regionaler Parlamente besetzt. Diese zweite Kammer wäre ähnlich dem amerikanischen Senat nicht demographisch proportional, sondern paritätisch besetzt und hätte die Funktion, die Gesellschaften der Einzelstaaten und ihre Interessen zu repräsentieren. Beachten Sie bitte: Nicht die Regierungen besetzen die Parlamente – weder die erste, noch die zweite Klammer –, sondern es handelt sich ausschließlich um vom Volk gewählte Parlamentarier. So wird nicht nur ihre demokratische Legitimation gestärkt, sondern auch die Identifikation der Menschen mit ihren Repräsentanten wieder gefestigt.

Als Judikative und Garant der europäischen Konstitution wird der Europäische Gerichtshof so positioniert und gestärkt, dass er das gesamte Staatswesen der EU überwacht und insbesondere auf die Einhaltung der Verfassungskompetenz zwischen den Gremien, aber auch gegenüber den Bürgern wacht.

Ein wichtiges Instrument des zukünftigen Europa wird seine Regierung sein. Die europäische Regierung wird sich nicht weiter an nationalen Interessen der verschiedenen Mitgliedsstaaten orientieren, sondern allein dem europäischen Interesse verpflichtet sein. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum Europa von heute: Der Europäische Rat, der jetzt die faktische Regierung der EU ist, ist lediglich eine Vertretung der verschiedenen nationalen Interessen. An Stelle des Rats muss daher eine gestärkte Kommission treten – als europäische Regierung. Eine Kommission, die wahrhaft europäisch denken könnte. Sie könnte sich lösen von der Verbundenheit zur Einzelstaatspolitik und ein mächtiges Instrument im Dienste Europas werden.

Allerdings bedarf sie dafür grundlegender Reform: Die Kommissare dürften nicht mehr de facto Abgesandte der nationalen Regierung sein. Sie müssten durch mehr legitimiert sein als durch ihre bloße Ernennung, sie benötigen künftig wirklich demokratische Legitimation. Ich schlage daher eine grundlegende Reform der Kommissionsbesetzung vor. Die europäische Regierung muss weg von der Position der reinen Verwaltungsspitze hin zu einer politischen Funktion.

Dazu muss sie demokratisch legitimiert werden. Eine mächtige, funktionsfähige Regierung, die nicht unter, sondern im Hinblick auf europäische Interessen neben oder über den nationalen Regierungen steht, muss vom Volke bestätigt werden.

Hierfür sind aus meiner Sicht zwei Wege denkbar: Erstens die Direktwahl des Präsidenten der Kommission, vermittelt durch die Wahl von Wahlmännern in den jeweiligen Mitgliedstaaten oder – zweitens – eine europäische Listenwahl.

Das US-Modell ist insofern betrachtenswert: ein demokratisch legitimierter Präsident, dessen Befugnisse sich nicht auf die Angelegenheiten der Bundesstaaten erstrecken, der jedoch gerade im Hinblick auf die Außen-, Sicherheits-, Umwelt- und Sozialpolitik diesen gegenüber stark ist. Der US-Präsident wird von Wahlmännern gewählt. Diese werden im Proporz der beteiligten Staaten bestimmt. Auf europäische Bedingungen adaptiert müssten in den einzelnen Nationalstaaten in einem 1. Wahlgang die Wahlmänner gewählt werden. Diese würden dann in einem 2. Wahlgang den Präsidenten Europas wählen.

Das zweite Modell könnte ich mir so vorstellen: Neben der traditionellen nationalen Listenwahl gibt es eine zweite Stimme: die Präsidentenstimme. Diese zweite Stimme wird an Listen vergeben, die europaweit einheitlich zur Wahl stehen und die sich auf einen gemeinsamen Kandidaten geeinigt haben. Der Spitzenkandidat der siegreichen Liste wird Präsident der EU.

Der Präsident müsste dann in Abstimmung mit dem Rat die Exekutive, also seine Regierung, die Kommission, zusammensetzen und dem europäischen Parlament zur Bestätigung vorschlagen.

Durch dieses Vorgehen würden zunächst die europäischen Strukturen gegenüber den nationalen gestärkt, zum anderen würde dadurch eine nötige Dramatisierung der europäischen Politik erreicht: Der Bevölkerung könnte Einfluss auf die Zusammensetzung der europäischen Institutionen nehmen, und diese würden dadurch an Legitimation gewinnen. Europa würde im Volk diskutiert, und zwar losgelöst von nationalen Interessen, fokussiert auf seine europäische Dimension.

Selbstverständlich ist für mich, dass eine so skizzierte Verfassung und die so angedeutete neue europäische politische Kultur besondere Rechte für regionale Institutionen und Parlamente, bereithalten muss. Vor allem Initiativrechte auch für die europäischen Bürger in Form von Volksentscheiden.

Und essentiell ist, dass die neu formulierte Verfassung in allen Mitgliedsländern ausführlich diskutiert und zur Volksabstimmung gestellt werden sollte, denn nur mit der Akzeptanz der Völker kann Europa wachsen. Lehnt ein Volk diese Verfassung ab, dann ist es eben nicht dabei. Das wäre vielleicht traurig, aber eben zwingend, denn Europa ist kein Modell, das die einzelnen Völker vergewaltigen soll.

Diese Volksabstimmung wäre nicht nur Sinn stiftend, sie würde zugleich einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit zu Durchbruch verhelfen. Grundsätzlich sei angemerkt, dass die politische Dramatisierung europäischer Entscheidungen und Wahlen die Herausbildung einer solchen europäischen Öffentlichkeit bedingt und somit die Voraussetzung einer funktionierenden europäischen Demokratie ist.

Nun sehen wir, dass solche Prozesse in Europa ihre Zeit brauchen: Die Reformbedürftigkeit der Organisation ist lange schon erkannt, passiert ist zu wenig, und was passiert, ist zu langsam. Es muss Dynamik in den Integrationsprozess kommen. Und man muss sich fragen: Wer wird an einem solch dynamischen Prozess teilhaben?

Die Antwort ist einfach: Alle EU-Mitglieder, die daran interessiert sind. Historisch nahe liegend ist, dass dies zunächst die Benelux-Länder, Frankreich, Italien und Deutschland sein werden und dass Großbritannien sich schwer mit einem solchen Prozess tun wird. Aber letztendlich wird Europa auch ohne die aktive Mithilfe der Briten verbessert werden müssen. Die Frage eines Kerneuropa stellt sich für mich auch dann nicht. Denn tatsächlich wird eine Initiative zunächst nie von allen getragen. Aber oft genug schließen sich ihr früher oder später viele an. Nämlich dann, wenn es uns gelingt, die politischen kulturellen Differenzen zwischen Staats- und Bürgergesellschaften zu überbrücken.

Denn Mehrheitsentscheidungen sind unbedingt erforderlich, will man das nationalstaatliche Dilemma der Interessenpolitik zugunsten einer europäischen Dimension hinter sich lassen. Es ist dies auch kein Verlust nationaler Souveränität. Ganz im Gegenteil: Die Stärkung einer europäischen Souveränität auf Grundlage dieses gemeinsamen Wertekonsenses führt zu einer anderen, einer höheren Souveränitätsebene. Ist ein ethischer Maßstab Grundlage europäischer Politik, so, wie er durch die europäische Magna Charta beschrieben wird, wird die Fortentwicklung der nationalen Souveränität gewährleistet.

Europäische Souveränität wird eine ethische Souveränität sein, indem sie Idealen verpflichtet ist, die Grundlage der europäischen Einigung sind: eine soziale, antitotalitäre und ökologisch bewusste Gesellschaft in Europa zu errichten. Eine der Nachhaltigkeit verpflichtete europäische Verfasstheit würde den herrschenden neoliberalen Tendenzen eine klare Absage erteilen. Nicht die Marktwirtschaft wird in Frage gestellt, aber die Hypostasierung des Marktes und seiner Gesetze.

Die neue europäische Souveränität setzt voraus, dass es uns gelingt, ein Eingreifen der öffentlichen Hand einerseits zu ermöglichen und andererseits zu kontrollieren und zu gestalten. Nur wer in der Lage ist, auf diese Weise europäische Belange in eine Politik öffentlicher Intervention zu übersetzen, wird die ausufernde europäische Bürokratie in ihre Schranken verweisen. Damit keine Missverständnisse auftreten, es geht mir nicht um die Aufhebung der nationalen Souveränität, sondern letztlich um ihren Ausbau. Aber es gibt eine Grenze nationaler Souveränität. Wenn ein Teil der eigenen Bevölkerung vernichtet werden soll, dann greift eine höhere, eine ethische Souveränität und hat nicht nur die Legitimation, sondern die Pflicht, sich über die nationalstaatliche Politik und Tyrannei hinwegzusetzen und einzugreifen.

Europa ist für mich eine Vision, ein Traum, ja sogar eine der letzten Utopien, für die es sich lohnt zu kämpfen. Ich bin überzeugt, dass die Idee des Verfassungspatriotismus (4), die Jürgen Habermas für die Bundesrepublik Deutschland formulierte, umso zutreffender ist für Europa. Mit dem Angebot einer europäischen Verfassung geben wir den Völkern die Möglichkeit, sich mit ihrem Europa zu identifizieren. Deswegen glaube ich, dass sowohl die Debatte als auch die Abstimmung über eine solche Verfassung die Voraussetzung für eine europäische Neugründung ist. Die öffentliche Auseinandersetzung stärkt das öffentliche Bewusstsein und ermöglicht politische Identifikation. In diesem Sinne bin ich europäischer Patriot – ein Verfassungspatriot.

Der gesamte Text der stark gekürzten Rede unter: www.taz.de

Fußnoten:(1) Einen offiziellen Beitrittstermin für die neuen EU-Kandidaten gibt es immer noch nicht. 2005 gilt inzwischen als der wahrscheinlichste. Als sichere Kandidaten gelten Slowenien, Estland, Ungarn, Polen und Tschechien.

(2) Fischers Rede, die er Mitte Mai in der Berliner Humboldt-Uni hielt, provozierte die europäischen Nachbarn vor allem durch die Idee eines „Gravitationszentrums“. Ein solches sollte von jenen EU-Staaten gebildet werden, die mehr als andere zu einer Intensivierung ihrer Zusammenarbeit bereit sind. Viele befürchten, dass so ein Zwei-Klassen-Europa entstehen könnte. Außerdem mahnte Fischer dringend eine europäische Verfassungsdebatte an.

(3) Subsidiarität ist das Zauberwort aller europäischen Institutionen-Politik. Kurz gesagt heißt es, dass die Entscheidungskompetenz auf einer so hohen politischen Ebene wie nötig und so niedrigen Ebene wie möglich angesiedelt werden soll.

(4) Der Begriff „Verfassungspatriotismus“ wurde 1979 von dem Politologen Dolf Sternberger als Gegenbegriff zu einem nationalen Patriotismus geprägt und von Jürgen Habermas während des Historikerstreits von 1987 populär gemacht: „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotimus“, sagt er damals. In der jüngster Zeit erfuhr „Verfassungspatriotismus“ eine unerwartete Renaissance, als die Grünen-Chefin den Begriff als mögliche Alternative zum Multikulti-Begriff ins Spiel brachte.