Unerwünschte Cousins

Diverse ethnische Gruppen aus aller Welt behaupten, Nachfahren der „verlorenen zehn Stämme“ Israels zu sein – und somit Juden. Ihr Ziel: die Einwanderung

von RALF BALKE

Wer in der jüdischen Gazasiedlung Gan Or auf Asiaten bei der Feldarbeit trifft, könnte glauben, dass es sich um Gastarbeiter aus Thailand oder den Philippinen handelt, die in den letzten Jahren zu Tausenden palästinensische Landarbeiter ersetzt haben. Weit gefehlt! Es sind Angehörige des Schinlung-Stammes aus dem Grenzgebiet zwischen Indien und Burma, die zu Beginn der Neunzigerjahre von „Amishav“ (Mein Volk kehrt zurück) nach Israel gebracht wurden, einer Jerusalemer Organisation, die sich die Rückholung der „verlorenen zehn Stämme“ auf die Fahne geschrieben hat.

Zwar sind die rund eine Million Schinlung, die auf dem indischen Subkontinent leben, christlichen Glaubens, aber seit geraumer Zeit praktizieren einige Tausend von ihnen so etwas wie ein Judentum für Anfänger. Sie halten Sabbat, beachten die Speisevorschriften und lassen ihre Söhne beschneiden. Auch einen Kibbuz zur Vorbereitung auf die Einwanderung nach Israel haben sie im fernen Asien gegründet. Die Schinlung betrachten sich als Nachfahren des Stammes Menasse, eines jener verlorenen zehn Stämme, der vor Urzeiten von den Chinesen versklavt und all ihrer religiösen Identität beraubt wurde.

Schon in den Fünfzigerjahren hatten Angehörige der Schinlung versucht, nach Israel zu emigrieren, aber erst zu Beginn der Neunzigerjahre konnte eine Gruppe, die in Bombay ganz offiziell zum Judentum konvertiert war, auf Basis des israelischen Rückkehrgesetzes, das jedem Juden das Recht auf Einwanderung und israelische Staatsangehörigkeit garantiert, einreisen.

Die Schinlung sind nicht allein. Der Stamm der Chiang-Min aus dem chinesisch-tibetanischen Grenzgebiet, die Ibos aus Nigeria oder eine etwa zwanzigtausend Personen zählende Gruppe aus Somalia, die sich „Ivro Adokeit“ nennt, sie alle behaupten auf Grund überlieferter Legenden, Mythen und Rituale von sich, jüdischer Herkunft zu sein. Unterstützt in ihrem Glauben und dem Wunsch, nach Israel einzuwandern, werden sie dabei von Rabbi Eliahu Avichail, der 1975 „Amishav“ ins Leben gerufen hat. Diese Organisaton entstand mit Unterstützung von Rabbi Zvi Jehuda Kook, dem Ziehvater der radikalen Siedlerorganisation „Gush Emunim“ (Block der Getreuen). Und damit wird auch klar, welche ideologische Komponente hinter dem frommen Wunsch des Rabbi Avichail steht, die verlorenen Kinder Israels heimzuholen: Mit Hilfe der Neuankömmlinge aus der Dritten Welt möchte er den demografischen Krieg gegen die Palästinenser gewinnen. Seine Schützlinge, die Schinlung und Co. sollen in den besetzten Gebieten angesiedelt werden.

Bis heute beschäftigen die verlorenen Stämme die Fantasien der Menschen. Und das, obwohl sich ihre Spur schon im 8. Jahrhundert vor Christus im Dunkeln verloren hat. Laut Altem Testament hatte Jakob, der Enkel des Stammvaters Abraham, zwölf Söhne: Ruben, Simeon, Levi, Juda, Isachar, Sebulon, Josef, Benjamin, Gad, Asser, Dan und Naftali. Aus ihnen gingen die zwölf Stämme Israels hervor. Als nach der Blütezeit unter den Königen David und Salomon das Reich Israel wieder zerfiel, gründeten die Stämme Juda und Benjamin ein neues Königreich Juda im Süden, die übrigen zehn firmierten weiter unter dem Namen Israel im Norden. Dann aber, zirka 721 v. Chr., bereiteten die Assyrer dem Königreich Israel eine vernichtende militärische Niederlage. Seine Bewohner wurden deportiert und tauchten nie wieder auf. Doch ihr Verschwinden blieb fest im Arsenal der jüdischen Erinnerung verankert.

Immer wieder berichten Reisende seither davon, dass sie etwa Indios auf Hebräisch hätten beten hören oder im tiefsten Afrika auf Menschen stießen, die vermeintlich jüdische Rituale pflegten. So auch 1644 Aaron Levi de Montezino, ein zwangsgetaufter Jude, der heimlich seinem alten Glauben weiter anhing und viel in Südamerika unterwegs war. Dort, auf dem Territorium des heutigen Ecuadors, habe er Indios getroffen, die das „Schma Israel“ (Höre Israel) beteten. Montezino schwor Stein und Bein, dass es sich bei ihnen um Nachkommen des verlorenen Stammes Ruben handele.

Nicht nur Juden beschäftigt das Thema: Im 19. Jahrhundert gab es in Großbritannien die Anglo-Israelitische Bewegung, die die obskure These vertrat, dass es die verlorenen Stämme irgendwann einmal in grauer Vorzeit auf die britischen Inseln verschlagen haben müsse. Ihre Argumentation: Die Tatsache, dass Großbritannien über die Welt herrsche, beweise, dass Engländer, Schotten und Waliser als ihre Nachkommen das wahre auserwählte Volk seien. Wer heute unter dem Suchbegriff „Lost Tribes“ im Internet recherchiert, findet ein wahres Paradies an Websites von hohem Unterhaltungswert, wo darüber gestritten wird, ob Puerto Rico und Kuba das Refugium der Stämme Ephraims und Menasses waren oder die Philippinen.

Auch die Genforschung hat sich nun auf die Suche gemacht und die DNA-Analyse zu einem Werkzeug jüdischer Geschichtsforschung erklärt. Tudor Parfitt von der University of London und Neil Bradman gelang es beispielsweise, genetische Verbindungen zwischen den südafrikanischen Lembas und Juden aus dem Jemen sowie Indien herzustellen, eine Entdeckung, die sogar dem Wall Street Journal eine Story wert war. Obwohl Parfitt die klare Trennung zwischen Mythen und Glaubwürdigkeit in Sachen verlorene Stämme will, kommt er zu dem Schluss, dass sich auf Grund seiner Forschungsergebnisse „einige dieser Mythen als wahr erwiesen haben“. Musik in den Ohren des Stämme sammelnden Rabbi Avichail, der 1991 bei einer Reise zu den Schinlung ins indisch-birmesische Grenzgebiet angeblich von Massen begrüßt wurde, die „Bring uns heim nach Israel“ gerufen haben sollen.

Immerhin, im Juli 1999 genehmigte das israelische Innenministerium auf Basis des Rückkehrgesetzes die Einreise von weiteren dreitausend Schinlung, wollte aber keinen müden Schekel für ihre Übersiedlung lockermachen. Zwar war dies ein Etappensieg für Rabbi Avichail, doch seine kleine Organisation ist außerstande, die Kosten für die Einwanderung zu tragen. Selbst die Westjordanland-Siedlung Kirjat Arba, die zuvor einige Schinlung aufgenommen hatte, sieht sich nicht in der Lage, weitere Einreisen zu finanzieren.

Hinter der Rückkehrwelle steckt jedoch eine ganz andere Problematik. Israel hat in den Neunzigerjahren einen wirtschaftlichen Boom erlebt, der das kleine Land in Sachen Sozialprodukt pro Kopf auf das gleiche Niveau wie Großbritannien katapultiert hat. Für Menschen aus der Dritten Welt ist Israel daher ein Land geworden, in dem sich der Versuch lohnt, sein Glück zu machen. Und es gibt politische Ursachen, denn mit dem Ausbruch der Intifada 1987 begannen israelische Firmen, Arbeitskräfte aus der ganzen Welt anzuheuern. Gastarbeiter aus Rumänien, Nigeria und Thailand ersetzten bald die palästinensischen Bauarbeiter und Tagelöhner. Weit über hunderttausend Ausländer leben heute teils legal, teils illegal in Israel, die genaue Zahl kennt keiner. Fakt ist, seitdem das Land zum „Club der Wohlhabenden“ gehört, teilt es die Probleme anderer Industriestaaten – und dazu zählt eben auch die ökonomisch motivierte Einwanderung. Die mitunter katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Menschen in Israel beweisen leider, dass das Land sich dieser Tatsache noch sehr wenig bewusst ist.

Besteht nun die Aussicht, dass demnächst Hunderttausende Menschen aus der Dritten Welt versuchen könnten, nach Israel einzureisen? In den vergangenen drei Jahrzehnten haben dies zwei größere Gruppen geschafft, die „Beta Israel“ aus Äthiopien und die „Bene Israel“ aus Indien. Letztere beriefen sich erfolgreich auf vor über zweitausend Jahren an der indischen Küste gestrandete jüdische Kaufleute als Vorfahren. Heftig diskutiert wird in Israel auch seit langem über den Umgang mit den Falas Moras, ursprünglich äthiopischen Juden, die zum Christentum konvertiert waren und nun zur jüdischen Religion zurückkehren wollen, um genau wie alle anderen äthiopischen Juden nach Israel auswandern zu können.

Es zeigt sich, dass das Thema verlorene Stämme für Israel ein gesellschaftlich-politisches Minenfeld sein kann. Weit mehr als rechtliche oder religionsgesetzliche Probleme tun sich auf, vielleicht steht sogar einmal das Rückkehrgesetz in seiner bisherigen Form, das immer ein raison d’être des jüdischen Staates darstellte, zur Disposition. Aber warum sollte man in Fragen der Einwanderung bei Menschen andere Kriterien ansetzen, nur weil sie anderer Hautfarbe sind und aus der Dritten Welt kommen, als beispielsweise bei Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, deren jüdische Herkunft manchmal ebenfalls im Dunkeln liegt?

RALF BALKE, 38, lebt als freier Journalist in Düsseldorf