Versionen des Untertauchens

Drei kurze Geschichten der Bestürzung: Das Hebbel Theater zeigt junges Theater aus Buenos Aires, das um Abwesenheit kreist. Väter, Ehemänner und Weltrevolution müssen weiter gesucht werden

von CHRISTIANE KÜHL

Organe, die nicht benutzt werden, verkümmern. Sagen die daheim. Erinnert der junge Mann. Und vielleicht haben sie sogar Recht, aber es hilft nicht wirklich weiter, denn „das Gedichtnäs ist doch kein Organ. Was ist das Gedichtnäs? Zwecklos.“

Erinnern ist eine schwierige Angelegenheit, auch in Argentinien. Und je weniger man es versucht, desto schlechter funktioniert es, da ist das Gedächtnis doch ganz Organ. Dass der junge Mann vermutet, seins sei verrostet, hat nichts mit Rasten/Rosten-Rhetorik zu tun, sondern mit Chemie – er befindet sich unter Wasser. Unfreiwillig. Untergetaucht war er aus freien Stücken, allerdings im übertragenen Sinne. Dass er nun wirklich am Grunde des Río de la Plata liegt, ist den Schlächtern der Militärdiktatur geschuldet, die die Menschen, die sie „verschwinden“ ließen, lebend aus Flugzeugen in den Fluss abwarfen. Und zu Hause warten die Liebenden.

„Señora, Ehefrau, Mädchen und junger Mann aus der Ferne“ heißt das Stück von Marcelo Bertucci, das dieser Tage im Hebbel Theater zu Gast ist. Es ist ein Hörstück, vor vier Jahren fürs Radio entstanden, wo man es aber nicht senden wollte. Cristian Drut hat es glücklicherweise auf die Bühne gebracht. Als Hörstück, beinahe: Lange ist die Bühne dunkel und nur die Stimme des Mannes aus dem Off zu hören. Körperlich ist er nie präsent, doch seine Stimme, die ohne Klagen, ohne jede Dramatik, eher mit Verwunderung von dieser Welt des Verschwindens erzählt, findet ihren Weg zwischen die Ohren der Zuschauer und nagt sich dort fest, wo vermutlich das Gedächtnis sitzen sollte. Es ist eine sehr poetische Sprache, die um ihr Ungenügen weiß, das Leben in seiner Monströsität gleichwie Schönheit zu fassen. Sie spricht von der Willkür der Begriffe, indem sie willkürlich Konsonanten und Vokale austauscht; sie dokumentiert ihre eigene Auflösung.

Auf der Bühne sitzen nebeneinander die drei Frauen, die Euphemismen für den Tod suchen: Papa ist verreist. „Bis nächstes Jahr“, sagt die Mutter. „Für mich bis nächsten Donnerstag“, sagt seine Frau, mit Anspielung auf die Demonstrationen auf der Plaza de Mayo. Nur die Tochter agiert praktisch, surft und navigiert: „Ich habe Papa im Internet gesehen.“ Am Ende geht sie selbst in Wasser aund hinterlässt nichts als eine Adresse: nina@fatherly.des.ar. Eine kurze Geschichte der Verstörung.

Verschwundene Männer stehen auch im Mittelpunkt von Federico Leóns „Mit quinientos metros sobre el nivel de Jack“ – „1.500 Meter über Jacks (Meeres-)Spiegel“. Seit ihr Mann nicht mehr zurückkehrte, lebt die Frau im Badeanzug wartend in der Wanne; der erwachsene Sohn steht ihr im Taucheranzug zur Seite. Ein einprägsames Bild, das der junge Autor und Regisseur da geschaffen hat – umso beeindruckender, als das kleine, weiß gekachelte Bad im gewölbeartigen Keller des Hebbel Theaters aufgebaut wurde, wo die Zuschauer dicht gedrängt am Ort des Geschehens sitzen. Das Wasser sei eiskalt, berichtet der Sohn, der unten war; er habe den Vater gesehen, doch der vermesse lediglich Steine. Es habe eine Wechselsprechanlage gegeben, aber leider funktionierte sie nicht.

Was an der Inszenierung fasziniert, ist ihre seltsame Mischung aus Absurdität und Gewalttätigkeit. Mit dem Auftritt seiner Geliebten nämlich, die ebenfalls ihren Mann vermisst, und ihrem Sohn, der bald auch im Taucheranzug in der Wanne sitzt, beginnen Streitereien und heftige Prügeleien auf glitschigem Grund. Dazu erzählt der Junge die Gute-Nacht-Geschichten seiner Mutter: „Wir werden immer schwärzer, und wenn wir ganz schwarz sind, dann sterben wir.“

Nein, betont León im anschließenden Gespräch genervt, mit den desaparecidos habe sein Stück nichts zu tun: Nie habe er beim Schreiben oder Proben an die „Verschwundenen“ der Militärdiktatur gedacht, Väter verschwänden doch überall auf der Welt. Das sei eine familiäre, keine politische Thematik. Ähnlich abwehrend hatten sich El Periférico de los Objetos Anfang des Jahres geäußert, als man ihr Theater als Beispiel der neuen sensiblen künstlerischen Verarbeitung der argentinischen Diktatur beschrieb. Beim Goethe Institut Buenos Aires erklärt man das mit Generationen-Dialektik.

Ebenfalls im Hebbel zu sehen ist Ricardo Bartís Adaption von Roberto Arlts Roman „Die sieben Verrückten“, die 1999 bereits beim Theater der Welt in Berlin zu sehen war. Das Kammerspiel „Die Sünde, die man nicht nennen darf“, erzählt die schöne Geschichte einer debilen Weltverschwörung, die die Revolution über Bordelle ohne Huren finanzieren will. Das ist fast so schön wie der „Ficken ohne Frauen“-Workshop bei Marthaler.

„El pecado . . .“, 20 Uhr (Publikumsgespräch: 5.11., 18 Uhr); „Señora, esposa, . . . “, 22 Uhr, „Mil quinientos metros . . . “, heute 23.30 Uhr, sonst 22 Uhr, alle bis 7. November, Hebbel Theater, Stresemannstr. 29, Kreuzberg