Ein bisschen wie Lummerland

Geschichten und Begegnungen aus dem Karst: Eine Wanderung im Westen des slowenischen Fernwanderwegs Transversale an die Adria durch uralten Laubwald und leere Dörfer. Eine Zeitreise durch eine verlassene Region

Der Architekturstar Jose Plecnik ließ sichnicht verleiten

von ULRIKE HERMANN

Ein Glück, dass es in Deutschland geregnet hat. Sonst wären wir nie nach Slowenien gefahren. Und hätten nie die vier Männer kennen gelernt: Professor Sumliak und Alojz, den lebenden und den toten Joze.

Von Professor Sumliak wissen wir eigentlich nur eines: Er hat 1949 einen Fernwanderweg erfunden und auch gleich markiert. Angeblich war es sogar der erste in Europa, die „Transversale“ durch Slowenien. 800 Kilometer ist sie lang. Das würde man von einem ordentlichen Fernwanderweg auch erwarten – aber nicht in Slowenien. Da muss die Strecke fantasievoll das Land umrunden. Denn die winzige Exrepublik von Jugoslawien ist so groß wie Oberbayern.

Es lebt sich dort ein bisschen wie in „Lummerland“. Von den Bergspitzen ist das meiste immer gleich zu überblicken: Im Norden steigen die Julischen Alpen auf knapp 2.900 Meter an; im Süden liegt der Berg Sneznik, wo noch Wölfe leben; im Osten ziehen sich die Weinhügel bis nach Ungarn, und im Westen stürzt der Karst in die Adria.

Slowenien ist eine Miniaturausgabe von Europa. Diese Vielfalt und Schönheit wollte Professor Sumliak nicht nur der einheimischen Jugend zeigen, die sich auf der Transversale „körperlich und geistig kräftigen“ sollte. Nein, auch im Norden sollte man es wissen. 1979, schon zu Titos Lebzeiten, wurde die Wegbeschreibung ins Deutsche übersetzt.

Wir entscheiden uns für die Etappen im Karst, mit dem Endpunkt Adria. Doch die weißen Schluchten müssen woanders liegen. Die Tranversale führt durch uralten Laubwald, der sich zum Dschungel verknotet. Ansonsten ist der Karst menschenleer.

Manchmal ausgestorben. Im Wortsinne. Unsere Tagesetappe endet in Podgrad. Ein paar Häuser scharen sich um die Kirche; es gibt keine Herberge, noch nicht einmal eine Bar. Angesichts der Bettennot empfahl Professor Sumliak schon 1979, beim „Bauern Prelc“ nach Unterkunft zu fragen.

So lernen wir den lebenden Joze kennen. Inzwischen ist er 65 Jahre alt, aber immer noch so neugierig und drahtig, wie ihn auch der Professor angetroffen haben dürfte. Wie alle slowenischen Karstbewohner seiner Generation spricht Joze fließend Italienisch, breit und gemütlich; denn nach dem Ersten Weltkrieg gehörte die Region zu Italien, erst 1954 fiel sie an Jugoslawien.

Seit Professor Sumliak vorbeikam, hat sich nur eines wirklich geändert: Joze ist jetzt ehrenamtlicher capo, also Bürgermeister. Und das gleich von sechs Dörfern – denn jedes einzelne gibt es fast nicht mehr. Beim selbst gemachten Weißwein referiert Joze die Einwohnerstatistik. Vor hundert Jahren hätten noch 285 Menschen in Podgrad gelebt, jetzt seien es genau 20. Ein Baby, 5 Paare – und 9 Junggessellen. „Alles Hoferben!“ Aber die Mädchen des Dorfs seien lieber in die Städte abgewandert. Eigentlich kann es Joze bis heute nicht fassen, dass seine Frau freiwillig den Stall für die vier Kühe ausmistet, die er besitzt. Aber er gibt zu, dass es für die Rollenverteilung hilfreich war, dass sie die Tocher eines Freundes seines Vaters ist.

„Die Junggesellen leben in den Häusern, die keine Blumenkästen haben“, informiert uns Joze nüchtern. Nichts könnte in Slowenien das soziale Scheitern besser symbolisieren: Selbst die Bushäuschen werden mit Petunien verziert; alle Bahnhöfe sind üppig bepflanzt. In einer Geranien-Olympiade würde sogar Tirol gegen Slowenien verlieren.

Wenn fast alle Einwohner über 60 sind, dann bleiben für einen ehrenamtlichen Bürgermeister nur noch zwei Dinge zu tun: den Friedhof herzurichten – und die Straße dorthin zu asphaltieren. Beides hat Joze schon erreicht, und er ist stolz auf seine erfolgreichen Verhandlungsreisen in die Hauptstadt Ljubljana. Aber ganz kann er das Aussterben seines Dorfes doch nicht glauben. Als strenger Katholik nimmt er, ohne es zu ahnen, die zentrale evangelische Anekdote ernst: Er pflanzt Apfelbäumchen – sogar nach EU-Norm. Auch dies ein Stück Hoffnung. Längst hat Slowenien Portugal und Griechenland wirtschaftlich überrundet, jederzeit könnte es Mitglied der EU werden. Die will aber Polen, Ungarn und Tschechien nicht verprellen. Und so müssen sich die Slowenen geduldig anstellen.

Die nächste Wanderetappe endet in Kozina, fast an der Adria. Lautstark begegnen sich hier die Fernstraßen von Triest zur slowenischen Hafenstadt Koper und von Ljubljana nach Rijeka in Kroatien. Aber es gibt Pensionen; und in der grandiosen Leere des Karsts ist dies ein Grund zum Bleiben. Auch Alojz vermietet zwei Zimmer. Der 70-Jährige bewohnt einsam und als Letzter das einst prächtige Elternhaus: einen breiten Gasthof mit Garten, Ställen und Ziehbrunnen. Längst hat Alojz den Kampf gegen den Verfall aufgegeben. Das Erdgeschoss ist verrammelt; die Holzmöbel verrotten.

Sein Vater, ein slowenischer Kaufmann aus Triest, erwarb das Wirtshaus 1925. „Die falsche Zeit“, wie Alojz im Rückblick traurig die Schultern zuckt: erst die Weltwirtschaftskrise, dann der italienische Feldzug gegen Abessinien, Zweiter Weltkrieg, Partisanenkrieg. 40.000 Slowenen kämpften gegen die deutsche Besatzung, auch Alojz’ Familie. Schließlich folgte die sozialistische Enteignung, der Vater wird für immer arbeitslos. Ein Foto im Wohnzimmer zeigt ihn als jungen Unternehmer in den Zwanzigern: Irgendwelche Nichten hatten Kommunion und tragen weiße Kleider; er sitzt mit Stock und Schnurrbart sehr elegant in der ersten Reihe. Damals wusste dieser energische Mann noch nicht, dass er keine Chance hat.

Genauso wenig wie sein Sohn. Früh fiel Alojz durch sein Sprachtalent auf und besuchte – für ein Dorfkind selten – das Gymnasium. Doch ohne kommunistisches Parteibuch keine Karriere, und so langweilte sich Alojz ein Leben lang als Grenzbeamter. Dennoch ist er nicht verbittert – und schon gar nicht unfair: Obwohl er dem verordneten Sozialismus nichts abgewinnen konnte, verteidigt er die russische Sprache als „warm und schön“. Und obwohl mit der slowenischen Selbstständigkeit endlich die Selbstbestimmung kam, bedauert er das Ende Jugoslawiens. Sinnlos sei ein lebensfähiger Staat zerschlagen worden.

Dabei kann auch Alojz hassen. Ganz besonders seinen parteitreuen Chef an der Grenze, unter dem er bis zur Pensionierung litt: ein „Mittelschulabsolvent“, wie Alojz verächtlich präzisiert. Nur ungern gibt er zu, dass ausgerechnet diese sozialistische Durchschnittbegabung als Erste das Wesen des Kapitalismus begriff. Der Chef war es, der vorausschauend die Grundstücke aufkaufte, über die jetzt die Autobahn von Ljubljana zur Adria gebaut wird – und er gründete den wahrscheinlich einzigen Biergarten südlich von Österreich. Im Nichts einer Gewerbebrache werden jetzt Biersuppen und Bierwürste angeboten. Vor allem Italiener sitzen an den schmucklosen Tischen; zu Hunderten rollen sie jeden Abend aus dem nahen Triest herbei. So viel „Initiative“ bestaunt Alojz hilflos, der sich vorwirft, dass er sich als Grenzbeamter vom Staat versorgen ließ, dass er nie Unternehmer wurde. „Aber es braucht nicht nur Talent, sondern auch glückliche Umstände“, sagt er und beneidet den Architekten Plecnik, der zum nationalen Symbol aufstieg.

Das ist der tote Joze. Ihm waren wir schon in Ljubljana begegnet. Wir hatten noch nie von ihm gehört. Und dann stehen wir plötzlich auf einer der genialsten Brücken, die wir je überquert haben. Dabei hat Joze Plecnik fast nichts gemacht. Die Brücke war schon vor ihm da, eine schlichte Konstruktion aus dem 19. Jahrhundert. Er hat sie nur geschmückt. Er hat die alte Brücke einfach mit zwei neuen Brücken flankiert, so dass aus ihr ein spitzes Dreieck wurde. Von oben gesehen. Sieht man die Brücke von der Seite an, flussaufwärts oder -abwärts, dann sieht man sie gar nicht. Dann sieht man einen Magritte in Stein: gebauter Surrealismus. Hintereinander schichten sich die grauen Balustraden der „Tromostovje“ (Drei Brücken), rhythmisch, aber nicht synchron. Und auf jeder Balustrade kuscheln sich Kugeln, streben gedrehte Säulen empor. Man glaubt, bis zur Brust in rechteckigen Wellen zu waten.

Und so hat es Plecnik immer gemacht. Er hat seine Heimatstadt nicht abgerissen, sondern ergänzt. Nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs sollte er aus einer österreichischen Provinzstadt möglichst schnell die Hauptstadt der Slowenen machen. Aus Laibach sollte Ljubljana werden. Doch Plecnik hatte ein Problem: Die Stadt war schon perfekt. Barock und Jugendstil webten sich ineinander. Neubauten wurden eigentlich nicht gebraucht – wäre nicht der Wunsch nach nationaler Überhöhung gewesen. Der Architekturstar ließ sich nicht verleiten. Plecnik unterwarf sich der Schönheit seiner Heimatstadt und verzichtete auf monumentale Neuerungen. Er fasste die Stadt ein wie ein Juwel. Baute Brücken, Balustraden, Säulen. Schuf Blickachsen. Und wählte das modernste, weil billigste, Material: Er ließ die bizarren Verzierungen in Beton gießen.

Mehr als drei Jahrzehnte baute Plecnik in Ljubljana, bis zu seinem Tod 1957, und erlebte Demokratie, Diktatur, Sozialismus. Doch fast unbeeindruckt folgte er seinem Spaß am Ornament. Nur in seinem letzten Werk, dem Umbau eines Klosters, ist ein kleines Zugeständnis an Tito zu sehen: umrahmt vom Blumenstuck, mittendrin, ganz klein, Hammer und Sichel. Als sei der Sozialismus ein Versteckspiel.

In dieser Haltung erkennen sich bis heute fast alle Slowenen wieder. Auch der Volvofahrer, der uns mit zurück an die österreichische Grenze nimmt. Schon unter Tito vertrieb er amerikanische Futtermittel . . . Aber das wäre ein fünfter Mann – und eine neue Geschichte.

Marek Podhorsky: „Julische Alpen“. Berg Verlag Rother 2000, 19,80 DMRudolf Baumbach: „Zkatorog. Eine Sage aus den Julischen Alpen“. Slavica Verlag, München 2000, 49,80 DM