: „Viele sind nicht therapierbar“
Interview ULRIKE WINKELMANN
taz: Herr Marneros, nach der Flucht Frank Schmökels steht nun der gesamte Maßregelvollzug Brandenburgs auf dem Prüfstand. Passt man im Ostdeutschland nicht gut genug auf Sexualverbrecher auf?
Andreas Marneros: Das halte ich für kaum möglich. In den Kliniken, die ich kenne, ist man sehr stolz darauf, immer auf Nummer sicher zu gehen. Der Maßregelvollzug in den neuen Ländern ist noch jung, er wurde ab 1991 überhaupt erst aufgebaut. Die DDR kannte keinen Maßregelvollzug; psychisch kranke Straftäter waren im Gefängnis oder wurden irgendwie in Krankenhäusern mitverwahrt. Und die Unerfahrenheit führt in diesem Geschäft eher zu ängstlichem, sicherheitsfixiertem Verhalten als zu besonderer Lockerheit.
Also gibt es einen Unterschied zwischen Maßregelvollzug Ost und West?
Der Westen hat eine viel längere Erfahrung vorzuweisen; dafür sind im Osten in den vergangenen Jahren einige Anstalten komplett modernisiert worden. Das heißt, dass zwar noch nicht genug, immerhin aber zunehmend mehr Plätze zur Verfügung stehen. Das größte Problem, das wir haben, ist aber nicht der Platz, sondern ein personelles: Die forensische Psychiatrie braucht mehr qualifizierte Ärzte, Psychologen und Betreuer. Das gilt allerdings für Ost und West.
Es gibt zu wenig Leute für den Job?
Obwohl es viele engagierte Leute gibt, gibt es noch lange nicht genügend Anreize, noch mehr dazu zu bewegen, den Job zu machen. Diese Disziplin ist nicht attraktiv genug: Therapieerfolge stellen sich enorm langfristig ein, die Karrieremöglichkeiten sind eingeschränkt, weil die Forensiker in aller Regel den Anschluss an die Uni-Kliniken verlieren. Und natürlich haben nicht alle gern mit gefährlichen Gewalttätern zu tun. In der Tat sind es nicht immer die Besten ihres Faches, die in die Forensik gehen.
Ist das der Grund für die Fehleinschätzungen von Psychiatern und Psychologen, die immer wieder Sexualtäter für weniger gefährlich erklären, als sie sind?
Nein. Das Problem bei der Behandlung von Sexualtätern ist ein doppeltes: Erstens ist man bei diesen Menschen darauf angewiesen, dass der Täter ehrlich ist. Die Gefährlichkeit wird in in aller Regel danach bemessen, ob der Patient noch sexuelle Phantasien hegt und auch von ihnen berichtet. Tut er das über einen längeren Zeitraum nicht und verhält sich auch sonst angepasst, ist der Gutachter geneigt, ihm Lockerungen zu gewähren.
Zweitens ist der Therapeut in einer Doppelrolle: Einerseits soll er den Patienten behandeln und möglichst heilen, andererseits soll er ihn bewachen. Für das eine ist Vertrauen notwendig, durch das andere wird es zerstört. Dadurch geraten beide, Patient und Therapeut, in einen Loyalitätskonflikt, der kaum auflöslich ist.
Wie kann die Gefährlichkeit eines Patienten dann überhaupt eingeschätzt werden? Frank Schmökel wurde von einem Team von 14 Kräften in die Lockerungsstufe 4 eingestuft, wonach er mit insgesamt drei Pflegern Ausgang hatte.
Abgesehen davon, dass es sich im Fall Schmökel nach den Presseberichten um ein Versagen der Pfleger handelt, sollte es bei jeder Probeentlassung und entscheidenden Lockerung und Haftaussetzung für Gewalttäter einen Fremdgutachter geben. Nur dadurch können Fehleinschätzungen aufgrund der besonderen Vertrauens- und Gewöhnungslage seitens anstaltsinterner Gutachter vermieden werden.
Aber der Fremdgutachter guckt dem Patienten auch nur vor den Kopf.
Phantasien sind eben nicht zu erfassen. Ein ganz wichtiges Kriterium zur Beurteilung ist jedoch meines Erachtens die emotionale Betroffenheit, das Leid, das die Täter zeigen, wenn sie mit dem Schicksal ihrer Opfer konfrontiert werden. Ich glaube, daran kann man vieles ermessen, was im Patienten vorgeht.
Kritiker des Maßregelvollzugs weisen immer wieder darauf hin, dass Sexualtäter gerade durch die Therapie lernen, alle solche Funktionen zu bedienen, die ihn angepasst und ungefährlich erscheinen lassen. Auch das Gestehen von Phantasien werde dann so inszeniert, dass es als vernünftig und kontrolliert belobigt wird.
Auch vor dem Vollzug und also auch vor dem Therapeutenkontakt sehen sich die Täter schon von ihren Phantasien dominiert und gelenkt. Und im Vollzug wollen manche auch gar nicht davon befreit werden. Ich hatte Fälle von Männern, die mir sagten: „Ich will meine Phantasien nicht verlieren, sie sind ein Teil von mir, sie gehören mir.“ Diesen ist nicht zu helfen.
Gibt es das, Untherapierbarkeit? Eigentlich geht man in den Psycho-Wissenschaften doch davon aus, dass jeder therapierbar ist – die Frage ist nur, wie viel Energie und Geld in eine Therapie investiert wird.
Doch, es gibt Untherapierbarkeit. Die Statistik spricht mal von 20, mal von 60 Prozent untherapierbaren Sexualtätern. Die Wahrheit wird irgendwo in der Mitte liegen. Aber unsere Gesellschaft sollte sich damit abfinden, dass ein großer Teil der Sexualtäter nicht therapierbar ist. Gleichwohl ist es unsere Pflicht, alle therapieren zu wollen. Wir müssen alles für sie tun, auch wenn wir wissen, dass es in vielen Fällen sinnlos ist.
Ihr Kollege Reinhard Wille aus Kiel ist einer der wenigen, die zur chirurgischen Kastration raten.
Die Zahlen, die Wille vorgelegt hat, haben mich tatsächlich auch nachdenklich gemacht und beeinflussen meine prinzipielle Skepsis gegenüber solchen Radikalkuren. Er hat nachgewiesen, dass Männer, die sich freiwillig haben kastrieren lassen, zehnmal weniger rückfällig wurden als Männer, denen von den Ärzten die Kastration nicht bewilligt wurde. Ich denke, dass solche Ergebnisse denen den Wind aus den Segeln nehmen, die gegen die Kastration grundsätzlich polemisieren. Zahlen sind Zahlen sind Zahlen. Aber auch hier zählt das Kriterium der Freiwilligkeit.
Was ist aber mit denen, die solche radikalen Maßnahmen ablehnen und auch sonst als untherapierbar gelten? Sollen diese Fälle lebenslang im Maßregelvollzug bleiben? Jede Strafe muss laut Gesetz einmal ein Ende haben.
Die Antwort darauf muss die Gesellschaft endlich finden. Der Maßregelvollzug ist eine medizinische Insitution. Es ist nicht die Aufgabe von Ärzten, Menschen dauerhaft zu bewachen. Untherapierbare gehören nicht in Krankenhäuser. Notwendig ist, die Therapiewilligen und -fähigen von denen zu trennen, die weder therapiewillig noch -fähig sind, denn die Letzteren machen oft genug den Ersteren das Leben schwer.
Sollen die Untherapierbaren dann zu der anderen Gruppe Verlorengegebener gesteckt werden – denen, die im Knast nach Verbüßung ihrer Schuld in der Sicherungsverwahrung bleiben müssen, weil sie als gefährlich gelten?
Nein. Es muss eine Zwischenlösung geben, wo beide Gruppen sicher verwahrt werden können. Da muss sich der Staat etwas ausdenken.
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