Die elitäre Variante der nationalen Erhebung

Das aufregende Buch von Ingo Haar enthüllt erstmals detailliert die NS-Vergangenheit der Gallionsfiguren der bundesdeutschen Historiker

Um Theodor Schieder und die von ihm repräsentierte deutsche Historikergeneration wird seit einigen Jahren erbittert gestritten. Denn ausgerechnet die Gallionsfiguren der westdeutschen Geschichtswissenschaft, Hans Rothfels, Werner Conze und eben Schieder, hatten seit Beginn der Dreißigerjahre an der Grenzlanduniversität Königsberg die prekär gewordene deutsche Machtstaatsgeschichte durch die Einbeziehung des „Volkstumskampfs“ in den historischen Diskurs wieder flottgemacht. Zudem arbeiteten sie der aggressiven Bevölkerungs- und Umsiedlungspolitik der Nazis vor.

Generöse Historiker

Als ob nichts gewesen wäre, saßen diese Historiker dann seit den Fünfzigerjahren an den Schalthebeln der bundesdeutschen Geschichtspolitik und betrieben eine gemäßigt konservative Geschichtstypologie. Ansonsten kümmerten sie sich intensiv um die Karrieren ihrer Assistenten, die dann in den Siebziger- und Achtzigerjahren als Exponenten der sozialliberal gefärbten Zeitgeschichtsforschung und Historischen Sozialwissenschaft die Forschungslandschaft prägten. Während diese Söhne nun ihrerseits von den Lehrstühlen abtreten, werden sie von den noch nicht saturierten Enkeln nachdrücklich gefragt, warum sie seinerzeit mit ihren in den NS-Völkermord verstrickt gewesenen Vätern so generös umgingen.

In diesem Kontext haben in den letzten drei Jahren junge Historiker erstaunliche Arbeitsergebnisse vorgelegt und unser Wissen über die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften und ihre Publikationsstellen, die Landesstellen für Nachkriegsgeschichte, die Kriegs- und Nachkriegskarrieren der SS-Historiker, die Ost-, West- und Südostforschung sowie den Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften erheblich verbreitert.

Besonders hervorzuheben ist hier die soeben erschienene Studie von Ingo Haar. Im Zentrum der Analyse steht der Aufstieg der Königsberger Troika und ihres Umfelds im Rahmen der historischen Ostforschung. Damit leistet Haar einen entscheidenden Beitrag zur Klärung der derzeit so heftig umstrittenen Frage, was die Conze- und Schieder-Generation zu Beginn ihrer akademischen Karrieren veranlasste, die Historie in eine kämpfende Wissenschaft zu verwandeln und ausgerechnet der mörderischen Bevölkerungspolitik der NS-Diktatur zuzuarbeiten. Er verortet die Königsberger Seilschaft mitsamt ihrem Umfeld im wechselhaften Spannungsfeld von Wissenschaft und politischer Macht und analysiert ihre wichtigsten Entwicklungsetappen. Erst in diesem Kontext können die Historikerbiografien handlungs- wie prozessgeschichtlich rekonstruiert und hinterfragt werden. Bei seinen ausgedehnten Archivrecherchen förderte Haar Tatsachen zutage, die unser bislang sehr fragmentarisches Wissen erheblich erweitern. Im Hinblick auf die Erforschung der Paradigmen und Aktivitäten der nazistischen Volkstumshistoriker setzt er neue Maßstäbe.

Völkische Avantgarde

Die Lektüre ist aufregend: Als Teil der völkisch-intellektuellen Nachkriegsgeneration sozialisierte sich die Königsberger Historikergruppe in akademischen Männerbünden, die eng mit den Untergrund- und Propagandaorganisationen der Konservativen Revolution liiert waren. Ihre volkswissenschaftlichen Paradigmen entnahm sie einer Theorieproduktion, die völkisch-faschistische Vordenker einer restaurierten deutschen Vorherrschaft über Mitteleuropa seit Beginn der Zwanzigerjahre in Gang hielten – nicht selten gegen die gemäßigte Revisionsstrategie ihrer behördlichen Auftraggeber. Ihre Hinwendung zur Ostforschung hing mit der Entscheidung der agrarischen Eliten und der Präsidialkabinette zusammen, den Kampf gegen Versailles in ein Programm zur Gewinnung von Lebensraum im Osten einzubinden. Infolgedessen agierten die jungkonservativen Historiker beim Übergang von Papen zu Hitler als elitär-akademische Variante der nationalen Erhebung.

1934 schlug schließlich ihre große Stunde, als Albert Brackmann und Hermann Aubin, die Hauptakteure der Selbstgleichschaltung der deutschen Geschichtswissenschaft, die Königsberger Nachwuchshistoriker in das Netzwerk einer kämpfenden Geschichtswissenschaft einspannten. Aus diesem Arrangement der Großforschung zogen alle Beteiligten große Vorteile. Im Geflecht der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft, der Publikationsstelle Dahlem und der Landesstellen für Nachkriegsgeschichte waren die preußischen Nachwuchshistoriker an der Operationalisierung des Volkstumsbegriffs genauso beteiligt wie an ersten Feldforschungen in den polnischen Westprovinzen und den baltischen Staaten, in denen sie Verfahren der bevölkerungsstatistischen Erfassung mit agrarpolitischen Neuordnungsmodellen kombinierten und in ihre Habilitationsschriften einbrachten. Damit integrierten sich die Nachwuchshistoriker so in die volkstumspolitische Praxis der NS-Diktatur, dass sie 1937 bei der institutionellen Indienstnahme für die bevorstehenden Grenzrevisionen auf Planstellen übernommen werden konnten.

Ingo Haar hat den wichtigen Beitrag der Volkstumshistoriker zu den ost- und südosteuropäischen Bevölkerungsverschiebungen detailliert nachgezeichnet. Schon seit 1936/37 waren die jüdischen und zigeunerischen Bevölkerungsgruppen als nicht bodenständige Rassen aus den Bevölkerungsplanungen herausgenommen und für die Deportation zur Disposition gestellt. Ende September 1939 übergab die Publikationsstelle Dahlem dem SD-Hauptamt, dem Auswärtigen Amt und dem Oberkommando der Wehrmacht eine Aufstellung über die Zahl der Bevölkerung mosaischen Bekenntnisses in Polen. Im November 1941 vereinnahmte die Publikationsstelle Dahlem die inzwischen erarbeitete Deutsche Volksliste und avancierte zur zentralen Auskunftsbehörde in allen Fragen der individuellen Sortierung für die Ziele der ethnischen Flurbereinigung in Ost- und Südosteuropa. Währenddessen erfassten die Landesstellen für Nachkriegsgeschichte die volksfremden Minderheiten der annektierten Gebiete, wobei sie mit den Sortierungs- und Siebungsstäben der SS eng zusammenarbeiteten. Im März 1942 bedankte sich der ostpreußische Gauleiter Erich Koch bei Schieder für die selbstlose und erfolgreiche Tätigkeit seiner Landesstelle. Wenig später erhielt Schieder den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte in Königsberg.

Im Dienste des Völkermordes

Haars Befunde sind eindeutig. Zu Beginn ihrer akademischen Karrieren hatten die späteren Galionsfiguren der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft mit Forschungshypothesen gearbeitet, deren Denkfiguren den Aussonderungs- und Neuordnungsvisionen der nazistischen Volkstumspolitik angehörten. Indem sie die daraus hervorgegangenen handwerklichen Instrumente den Institutionen des NS-Völkermords zur Verfügung stellten, hatten sie zu einer beispiellosen Regression des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts beigetragen. Selbst auf der handwerklichen Ebene hatten sie elementare Grundsätze außer Kraft gesetzt und waren vor der Fälschung von Bevölkerungskatastern und Kartenwerken nicht zurückgeschreckt.

Für dieses niederschmetternde Fazit liefert Haars Buch Beleg um Beleg. Die Zusammenfassung wird diesem Ergebnis jedoch nicht vollständig gerecht. In ihr finden sich auch Feststellungen, die mit den Fragestellungen des Buchs nichts zu tun haben, so etwa die Behauptung, die Historische Sozialwissenschaft der Siebzigerjahre hätte an den Forschungsprojekten der von den Nazis in die Emigration getriebenen demokratischen Historiker (Eckart Kehr, Georg Hallgarten, Hedwig Hintze und Hans Rosenberg) wieder angeknüpft. Das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Historischen Sozialwissenschaft verdankt sich den Typenlehren, die sich Conze und Schieder in einem mehrjährigen Transformationsprozess vom radikal-imperialistischen Volkstum zur gemäßigt-imperialistischen Machtstaatsrationalität Max Webers angeeignet hatten. Diese geräuschlose Paradigmenverschiebung war von entscheidender Bedeutung, denn erst jetzt konnte das in den Dreißigerjahren erlernte wissenschaftliche Handwerk mit den neuen Geltungsansprüchen des bundesrepublikanischen politischen Systems verknüpft werden.

Damit wären wir wieder beim Ausgangspunkt unserer Überlegungen angelangt. Ingo Haar gehört einer nachgewachsenen Historikergeneration an, die erfolgreich begonnen hat, die seit längerem geforderte Ausleuchtung der Abgründe, die sich hinter den Gründervätern der BRD-Historie auftun, zu bewerkstelligen. Dabei sollte man sie weiterhin unterstützen und darauf achten, dass sie sich, da ihnen ja noch das zweite Nadelöhr der akademischen Karriere, die Habilitation, bevorsteht, nicht verbiegen müssen. KARL-HEINZ ROTH

Ingo Haar: „Historiker im Nationalsozialismus. Die deutsche Geschichtswissenschaft und der ‚Volkstumskampf‘ im Osten“. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000, 400 Seiten, 78 DM