bannmeile
: Der Wickelraum des Reichstages wird usurpiert – von den Devotionalien des Besucherdienstes

Bronzemedaillen statt Babydecken

Der Wickelraum des Reichstags ist in einem schlechten Zustand. Wirklich. Wer sich nach reiflicher Überlegung entschlossen hat, seinem Nachwuchs schon in frühesten Lebenstagen eine Unterrichtsstunde in gelebter Demokratie zu geben und also gemeinsam mit diesem das deutsche Parlament besucht, der könnte hier in Not geraten. Denn der Wickelraum, auf der Besucherebene gelegen, taugt zum Wickeln nicht.

Der Wickelraum ist als Büro und Devotionalienkammer des Reichstagsbesucherdienstes zweckentfremdet. „Nee, da hat sich noch keiner beschwert“, meint die gelockte Dame in roter Bluse, die ich an ihrem Schreibtisch im Wickelraum aufstöre. Und junge Mütter, Väter mit plötzlich verunreinigtem Nachwuchs? Wo sollen die hier wickeln? Windeln tauschen? Notdurft entfernen? Ja, eine Liege ist wohl da, im linken hinteren Eck des Raumes und ein handgemaltes Schild auch, das darauf hinweist, dass benutzte Windeln im Abfalleimer des Toilettenraumes zu entsorgen seien. Aber die Wickelecke ist voll gestellt mit einem kleinen Konferenztisch, mit sechs Stühlen drumherum, und auf der Wickelliege selbst sind umgedrehte Bürostühle aufgestellt. „Ach was. Wieso sollte hier schon jemand Kinder wickeln wollen?“, fragt sie fast empört auf meine staunende, besorgte Nachfrage zur Zweckentfremdung des Raumes hin.

Fast scheint sie in Sorge, man könne ihr ihren schönen persönlichen Büroraum in bester Parlamentslage wieder wegnehmen, wenn ruchbar wird, dass sie den kleinsten Besuchern hier ihren ganz eigenen Parlamentsraum vorenthält. „Wir sind hier alle so übers Haus und in anderen Häusern verteilt, bis im nächsten Sommer unsere Büros im Paul-Löbe-Haus fertig sind“, sagt sie so als letzte Verteidigung. Außerdem: So glücklich sei sie gar nicht mit der jetzigen Situation. Denn man darf den Wickelraum nicht abschließen. So viel Service am Kleinkind muss sein. „Und wenn die mir hier alles wegklauen ... Kann ich gar nicht verhindern. Und Leute spazieren hier rein und raus. Wie sie Lust haben. Zum Denken kommt man nicht.“

Na ja. Dafür hat sie aus dem Wickelraum ja auch etwas sehr Schönes, etwas sehr Eigenes gemacht, ihn sozusagen einer ganz neuen Nutzung zugeführt: Der Wickelraum des deutschen Reichstags ist die Trophäenkammer des Reichstagsbesucherdienstes.

Auf einem weißen Sperrholzregal gleich links neben dem Eingang sind die Geschenke der versammelten dankbaren Reichstagsbesucher der letzten Jahre ausgestellt: eine Autogrammkarte von Bill Clinton und von Gorbatschow, eine Porzellanmarke von der „Bundesumweltministerin Angela Merkel“, mit dem Vogel des Jahres 1997 bedruckt und dem Sinnspruch, „Fortschritt ist nur solcher, der der Natur nicht schadet“. Außerdem gibt es so eine Ausklapppostkarte vom Platz des Himmlischen Friedens ohne Widmung, rosagrüne Püppchen mit der Aufschrift „Welcome to Mongolia“, ein Knotenlernbrett von irgendeinem Seglerclub, Bierkrüge, Anstecknadeln, Bronzemedaillen, eine Gedanktafel vom Parlament in Canberra und eine rote Samtschatulle, in der, der Aufschrift zufolge, einst zwei Euro lagen. Heute ist sie leer.

Ich staune. „Das haben Sie alles geschenkt bekommen?“ „Nee, das waren die Kollegen“, sagt die Dame in Rot. Sie hat ihre beiden Geschenke, ein Wandrelief von Krakau und einen silbernen Becher, auf ihrem Schreibtisch aufgestellt. Sie deutet mit einer leicht geringschätzigen Geste darauf. Vielleicht, weil bei ihr noch nichts von einem Staatsmann dabei ist. Aber morgen wird sie den kroatischen Staatspräsidenten im Reichstag herumführen. Nur der Wickelraum wird diesmal wieder unbesichtigt bleiben.

VOLKER WEIDERMANN