Ein Duell in der Sonne

Nie ging es den USA so gut wie heute. Doch im Wahlkampf ging es vor allem um eins: den Wechsel

Seit Rhett Butler vor dem vom Winde verwehten Hintergrund des im Bürgerkrieg brennenden Atlantas Scarlett O'Hara in den Armen hielt, ist kein Kuss mehr so emblematisch gewesen wie der, den Al Gore vor 20.000 Zuschauern und Millionen Fernsehzuschauern seiner Frau Tipper auf den Mund drückte. Solche Leidenschaft für eheliche Treue versprach eine saubere Regierung in Washington. Den Kuss gibt es als Button für zwei Dollar zu kaufen, und er wird eins der Bilder sein, die vom Wahlkampf des Jahres 2000 übrig bleiben. Ein anderes wird das von Al Gore sein, wie er während der dritten Fernsehdebatte mit George W. Bush wie ein Tiger auf die Bühne sprang, jedesmal wenn ihm das Wort erteilt wurde. „Ich hatte Angst, er würde meinen Mann schlagen“, sagte Laura Bush später, und sie war nicht die Einzige, die diesen Eindruck hatte.

Heute geht der längste Wahlkampf in der amerikanischen Geschichte zu Ende. Sein Beginn lässt sich nicht genau datieren, ernst wurde es spätestens, als im März letzten Jahres George W. Bush ein „Ausschuss zur Erkundung seiner Chancen“ einberief. Seit 20 Monaten also beschäftigt sich mindestens ein Teil der amerikanischen Öffentlichkeit mit dem Kampf um die Nachfolge Bill Clintons.

Zu den Highlights dieses Wahlkampfs gehören auch die Busfahrten durchs eisige Neuengland, bei denen die beiden Parteirebellen John McCain und Bill Bradley in den verschneiten Schulen und weißen Holzkirchen New Hampshires den Dialog mit den Bürgern suchten und die Spitzenreiter Gore und Bush aus der Bahn zu werfen versuchten. McCain wurde zeitweilig zum favorisierten Außenseiter, zum Helden derer, die sich ein anderes politisches Spiel, ja eine andere Republik wünschten. Doch dann kehrten die vorbestimmten Kontrahenten im Erbfolgekrieg um Washington auf das Schlachtfeld zurück und beherrschten es – fast unangefochten bis zum Schluss – kurz gestört nur vom Spielverderber Ralph Nader, dem Kandidaten der grünen Partei.

Jiu-Jitsu im Wahlkampf

Was der langweiligste Wahlkampf der Neuzeit zu werden drohte – warum bloß sollte gekämpft werden im neuen Goldenen Zeitalter der USA – nahm im Spätsommer dieses Jahres eine unverhofft dramatische Wende. 16 Monate lang hatte Bush als Favorit die Szene beherrscht. Doch nach dem Parteitag der Demokraten geriet er unversehens ins Hintertreffen – und zwar gleich so gründlich, dass jemand wie der Politologe Charles O. Johnes von der University of Wisconsin in Madison erklärte, ihn interessiere der Ausgang der Wahl 2000 schon nicht mehr, er arbeite bereits an einem Buch darüber, warum Gore nur eine Amtsperiode lang regieren werde. Doch ausgerechnet nach den Fernsehdiskussionen, bei denen kaum jemand Bush eine Chance gegen den „tödlichen Debattierter“ Gore eingeräumt hätte, wandte sich abermals die Gunst, und nun scheint es, als stünde Bush knapp vor dem Sieg. Wie immer diese Wahl ausgeht, erklärungsbedürftig wird bleiben, warum der Stellvertreter eines der populärsten Präsidenten des 20. Jahrhunderts in einer Zeit noch nie dagewesener Prosperität nicht mühelos dessen Erbe und Amt antreten konnte.

Stephen Wayne, Politologe an der Georgetown University und Leiter eines Forschungsprojekts zur Untersuchung des Präsidentschaftswahlkampfes sagt, Bush habe das Kunststück fertiggebracht, einer Nation, die nichts weniger als den Wechsel und nichts mehr als die Fortsetzung des Bisherigen wünschte, den Wechsel aufgeschwatzt zu haben. „Bush hat einen fokussierten und meisterhaft choreografierten Wahlkampf geführt. Nie ist er vom Thema abgewichen, nie improvisierte, nie stolperte er. Einen „Jiu-Jitsu-Wahlkampf“ habe Bush geführt, sagt E. J. Dionne vom Brookings Institut, einen Wahlkampf, bei dem es Bush gelang, die Stärken der Regierung Clinton/Gore ebenso gegen Gore selbst zu richten wie die Schwächen des oppositionellen Republikanischen Kongresses.

Frieden und Wohlstand, die der regierenden Partei eigentlich zu Gute kommen sollten, erscheinen nicht mehr als Argument für die Fortsetzung des Bisherigen, sondern als Chance, Neues auszuprobieren – etwa das Rentensystem umzubauen oder die Schulpolitik zu reformieren. Angesichts astronomischer Haushaltsüberschüsse schien es, als könne man sich Steuererleichterungen und Wahlgeschenke zugleich leisten.

Washingtoner Gezänk

Und mit seinem Angriff auf Washingtoner Gezänk, das er zu beenden gelobte, beraubte Bush Gore gänzlich der Möglichkeit, auf die Obstruktion der Republikaner im Kongress einzugehen. Jeder Verweis darauf hätte wie eine Bestätigung des Bildes gewirkt, das Bush von Gore als Washingtoner Insider und Politikaster zeichnete.

Gore aber, der sich von Clintons Skandalen distanzieren wollte, trat unter dem Leitsatz an: „Eine Wahl ist keine Belohnung für vergangene Leistungen, sondern ein Test auf die Zukunft.“ Entsprechend trat er als Kämpfer auf: „I wanna fight for you“ (ich will für euch kämpfen) war sein häufigster Ausspruch.

So kam es zu der eigenartigen Komödie verkehrter Welten, in der Gore, der gemäßigte Demokrat, im Gewand des Populisten und Sozialreformers auftrat, der gegen das Großkapital zu Felde ziehen und Washington aus dessen Würgegriff befreien will, während Bush, der Outsider aus dem weiten und fernen Texas, als konzilianter Versöhner daherkam, und der ausgleichend zwischen alle widerstreitenden Interessengruppen tretend die Tagesgeschäfte der Nation ganz unideologisch zu verwalten versprach. Derart verwirrend war die ganze Aufführung, dass man dem Wähler schwer verdenken kann, wenn er wie Rhett Butler am Ende sagt: „Ehrlich gesagt, meine Liebe, es ist mir egal!“