Im Zweifel für die Leitkultur

Trotz erheblicher Bedenken in den eigenen Reihen hält die CDU an dem Begriff der Leitkultur als Richtlinie ihrer Zuwanderungspolitik fest

aus Berlin JENS KÖNIG
und SEVERIN WEILAND

Wenn Angela Merkel über Politik spricht, sieht es immer ein bisschen so aus, als habe sie auch etwas damit zu tun. Unscheinbar wirkt sie, und das, obwohl sie die CDU jetzt immerhin schon über ein halbes Jahr führt. Aber wenn man auf die Männer schaut, die auf den Pressekonferenzen gebeugt neben ihr stehen, bekommt man eine Ahnung von der Autorität dieser Frau.

„Nein“, sagte Peter Müller, saarländischer Ministerpräsident und Chef der CDU-Zuwanderungskommission, der gestern links neben Angela Merkel stand, angewiesen hätte die Parteivorsitzende ihn nicht, das umstrittene Wort „deutsche Leitkultur“ in das Einwanderungspapier aufzunehmen, nachdem es im ersten Entwurf nicht aufgetaucht war. „Es kam Freitag voriger Woche zu Telefonaten zwischen Frau Merkel und mir“, erklärte Müller. Dabei hätte seine Chefin gesagt, der Begriff sei nun mal in der Debatte, also müsse man ihn fixieren, damit es nicht zu Missverständnissen komme. Müller nannte diesen Vorgang das „charmante Drängen der Parteivorsitzenden“, und dem konnte er sich nicht entziehen.

Also steht der umstrittene Begriff, den Friedrich Merz vor drei Wochen etwas unüberlegt in die Debatte geworfen hatte, jetzt im Eckpunkte-Papier der CDU zur Einwanderung. „Leitkultur in Deutschland“, heißt es jetzt, und die CDU versteht darunter dreierlei: die Bereitschaft, die deutsche Sprache zu erlernen; das Bekenntnis zur Werteordnung des Grundgesetzes und die Akzeptanz der in Deutschland herrschenden Traditionen des Humanismus, der Aufklärung und des Christentums. Angela Merkel hat auf diesem Begriff beharrt, so heißt es in der Parteiführung. Ein unmissverständliches Signal an Fraktionschef Friedrich Merz.

Bei so viel Charme waren sie alle zufrieden. Für Kritiker des Merz’schen Ausfalls wie dem Bundestagsabgeordneten und CDU-Vorständler Friedbert Pflüger war der Streit mit Merkels Formulierungshilfe abgehakt: So wie die Leitkultur jetzt definiert sei, könne sie „kaum noch missverständlich sein“. Das Papier zur Einwanderungspolitik blicke „sehr viel weiter in die Zukunft“ als „alle anderen CDU-Papiere zu diesem Thema zuvor“. Im Übrigen empfahl er, die mit der Leitkultur in Zusammenhang gebrachten Forderungen auch gegenüber manchem Typus des Inländers zu erheben: Skinheads müssten sich „ebenfalls an Recht und Gesetz halten und die deutsche Sprache beherrschen“.

Was gestern einstimmig im CDU-Vorstand verabschiedet wurde, ist ein Arbeitspapier, das nun zunächst den Mitgliedern der Fraktion zukommen soll. Er hoffe, sagte der CDU-Rechtsexperte Wolfgang Bosbach, dass es auch dort „unter Einschluss der CSU-Landesgruppe“ angenommen werde. Ein kleiner Hinweis des Rheinländers an die bayerische Schwesterpartei, die sich mit der Umorientierung in der Einwanderungsfrage noch schwerer tut als die CDU. Aufmerksam wurde registriert, dass auch in dem jetzigen CDU-Papier eine Formulierung fehlt: dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Diesen Satz hatte Bosbach schon einmal im Sommer in ein Papier für die Fraktion ausdrücklich hineingeschrieben – nach Beratung in der Fraktion war der Satz wieder gestrichen worden. Dass die ungeliebte Feststellung nun wiederum im Papier der Partei fehlt, begründete Peter Müller mit dem noch fehlenden Problembewusstsein in großen Teilen der Bevölkerung. Es nütze doch nichts, die Debatte durch „Reiz- und Schlagworte“ unnötig zu belasten.

Und doch war es Müller, der das Wort und den Satz gestern in der Pressekonferenz in Berlin wieder in den Mund nahm: Die Wirklichkeit der Bundesrepublik, so der Saarländer, habe man in dem Papier beschrieben, „und die Wirkkichkeit ist unstrittig – Deutschland ist ein Einwanderungsland“. Der Ministerpräsident aus dem Saarland war es auch, der sich – im Gegensatz zu Merkel – klipp und klar vom Begriff der „deutschen Leitkultur“ distanzierte. „Wenig hilfreich“ nannte er das Wortpaar, aber das werde in seiner Partei „unterschiedlich gesehen“ und damit müsse man nun einmal leben. Bei allen Bezügen zum politischen Konservatismus – wie etwa mit dem Begriff vom „demokratischen Nationalbewusstsein“ – bedeutet das Papier für die CDU ein historischer Einschnitt. Derart große Worte will Müller nicht in den Mund nehmen. Das Papier sei eine „sinnvolle und richtige Weiterentwicklung der CDU“.