Langer Atem für weite Wege

In diesen Tagen wird der 150. Band der nunmehr schon legendären „Schwarzen Reihe“ im Fischer Taschenbuch Verlag ausgeliefert, die der Historiker und Lektor Walter H. Pehle im Jahr 1976 initiierte

von RUDOLF WALTHER

Gute Nachrichten aus dem Verlagsgewerbe sind selten geworden. Wo nicht gerade fusioniert wird, geht es um Rationalisierungen, also Etat- und Stellenkürzungen. Erfreulich dagegen, dass der Fischer Taschenbuch Verlag in diesen Tagen den 150. Band der nunmehr schon legendären „Schwarzen Reihe“ ausliefert. Es ist der autobiografische Bericht über die Außenlager von Auschwitz von Ernest Koenigs, der den „Vorhof der Vernichtung“ – so der Titel – überlebt hat und erst im hohen Alter in der Lage war, über die furchtbare Zeit zu erzählen.

Angefangen hat alles ganz bescheiden. Der Historiker Walter H. Pehle trat 1976 als Lektor in den Fischer Verlag ein und staunte erst einmal, dass der vom Nationalsozialismus gebeutelte Verlag gerade drei Bücher im Programm hatte, die sich mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigen: „Das Tagebuch der Anne Frank“ (1955), Inge Scholls „Die Weiße Rose“ (1955) und die Dokumentation des Schweizer Historikers Walther Hofer „Der Nationalsozialismus“. Der Verlag wurde 1886 von Samuel Fischer gegründet, 1934 von seiner Tochter Brigitte Fischer und seinem Schwiegersohn Gottfried Bermann-Fischer übernommen, die 1936 über Österreich und Schweden in das amerikanische Exil verjagt wurden.

Niemand – auch Pehle nicht – dachte an eine Buchreihe, denn Mitte der 70er-Jahre hielten viele das Kapitel Nationalsozialismus für abgeschlossen, und jene Sozialwissenschaftler, die sich noch damit beschäftigten, vertieften sich mehr in Faschismustheorien als in die Geschichte des Nationalsozialismus und in die Befragung von Zeitzeugen. Pehle stöberte zunächst einfach die Bestände des eigenen Verlages durch und stieß auf das „Nürnberger Tagebuch“ des amerikanischen Gerichtspsychologen Gustav M. Gilbert, das der Verlag 1962 herausgebracht hatte und nun (1977) in der neuen Aufmachung publizierte, die der Reihe ihren inoffiziellen Titel „Schwarze Reihe“ eintrug. Die Grafiker Jan Buchholz und Reni Hirsch entschieden sich für ein Dokumentarfoto vor schwarzem Hintergrund als Umschlag und einen Titel in schlanker weißer Schrift. Die Gestaltung blieb – bis heute fast unverändert – das optische Markenzeichen der Reihe, die erst 1989 ihren schlichten Reihentitel „Die Zeit des Nationalsozialismus“ erhielt.

Pehles „Schwarze Reihe“ kämpfte sich nicht nur gegen den Zeitgeist der Schlussstrich-Mentalität durch, sondern musste auch Widerstände im eigenen Haus überwinden – allerdings nie solche der Verlegerin und Verlagsleitung, die sich bewusst blieben, was sie der Geschichte des Hauses schuldig sind. Die „Schwarze Reihe“ gehört mittlerweile zu den „Kernkompetenzfeldern des Verlags“, wie es im Jargon der Betriebswirtschaftler heißt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten verstetigte sich der Absatz der Reihe, sodass sie sich im langjährigen Durchschnitt auch ökonomisch einigermaßen selbst trägt. Momentan werden pro Jahr etwa acht Bände produziert, rund zwei Drittel davon als Originalausgaben. Damit betrat Pehle Neuland, denn in den 70er-Jahren war es keineswegs üblich, dass Hochschulprofessoren Bücher für Taschenbuchreihen schrieben.

Zu den ersten Titeln, die Pehle wieder drucken ließ, gehörte neben dem Longseller Walther Hofers (bis heute über 1,2 Millionen verkaufte Exemplare!) die klassische Darstellung des deutschen Widerstands gegen Hitler von Hans Rothfels, die Quellensammlung „Medizin ohne Menschlichkeit“ von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke sowie die Dokumentation „Justiz im Dritten Reich“ der Frankfurter Juristin Ilse Staff. Den Durchbruch zum breiteren Publikum schaffte die „Schwarze Reihe“ mit ihrem Begleitbuch zur amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“, die 1979 von der ARD ausgestrahlt worden war und ein unerhörtes Echo auslöste. Der Untertitel des Fischer-Bandes, „Eine Nation ist betroffen“, war keine sentimentale Entgleisung, sondern eine nüchterne Feststellung. Das Buch wurde in drei Monaten 40.000-mal verkauft. Auch Claude Lanzmanns Dokumentation „Shoah“ (1986) und der „Historikerstreit“ (1986) um die revisionistischen Tendenzen in Teilen der deutschen Geschichtsschreibung steigerten das Interesse an der „Schwarzen Reihe“ und waren zugleich ein Beleg für deren Notwendigkeit.

Wissenschaftlichen Standards zu genügen, ist und bleibt das oberste Kriterium für den Lektor Pehle. Aber gleichzeitig sollen seine Bücher über den engen Kreis der Fachhistoriker hinaus die Verantwortlichen für politische Bildung und für die Erwachsenenbildung sowie interessierte Laien erreichen. Die Fachwelt anerkennt heute, dass die Buchreihe der „wissenschaftlichen Aufklärung über den Nationalsozialismus“ (H. U. Wehler) verpflichtet ist, aber Pehle will darüber hinaus mit langem Atem weite Wege gehen, um „ein breites Publikum über das aufzuklären, was damals geschehen ist und wie es dazu kommen konnte“.

Immer wieder hat der Einzelkämpfer ältere Werke zum Nationalsozialismus dem Vergessen entrissen, indem er sie in seine Reihe aufnahm. Das gilt für die Analysen der beiden deutschen Emigranten Franz Neumann („Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 – 1944, engl. 1942/44; dt. 1977 bzw. 1984) und Ernst Fraenkel („Der Doppelstaat“, engl. 1941; dt. 1986), besonders jedoch für das Werk des 1926 in Wien geborenen Historikers Raul Hilberg. Sein Standardwerk über den geschäftsmäßig-normalen Verlauf der Vernichtung der Juden erschien bereits 1961 auf Englisch und fand erst 1982 einen kleinen deutschen Verlag (Olle & Wolter), der sich jedoch mit der 800 Seiten umfassenden Übersetzung finanziell übernahm. Das Buch war viel zu teuer und blieb folglich ein Geheimtipp. Erst als Pehle 1989 die Rechte übernahm, Hilbergs Ergänzungen einarbeitete und ein Register erstellen ließ, wurde aus dem Geheimtipp – mit fast 40 Jahren Verspätung – ein Standardwerk, das zahlreiche neue Forschungen beeinflusst hat. Das Thema der Vernichtung der europäischen Juden hat sich im Laufe der Zeit zum Schwerpunkt der ganzen Reihe ausgewachsen. Ihm sind rund 60 Bände gewidmet.

So wie die „Schwarze Reihe“ dem deutschen Publikum manchen Klassiker wieder verfügbar machte, so wies sie auch den Weg zu Forschungsergebnissen jüngerer Historiker und trug wie keine andere Reihe dazu bei, zeitgeschichtliche Analysen über die rein fachwissenschaftliche Öffentlichkeit hinaus zu verbreiten. Stellvertretend für viele Autoren stehen dafür die Bücher von Ulrich Herbert („Nationalsozialistische Vernichtungspolitik“), Gudrun Schwarz ( „Die nationalsozialistischen Lager“), Wolfgang Sofsky („Die Ordnung des Terrors“), Gerd R. Überschär („Der Nationalsozialismus vor Gericht“), Hans Safrian („Eichmann und sein Gehilfen“). Einen herausragenden Platz nehmen jedoch auch wissenschaftliche Außenseiter aus dem nichtuniversitären Bereich ein. Pehle hat über Jahre hinweg an Autoren wie Götz Aly und vor allem Ernst Klee festgehalten, als deren Forschungsergebnisse in der Fachwelt noch kaum zur Kenntnis genommen wurden. Seit Ernst Klee 1997 den renommierten Geschwister-Scholl-Preis erhalten hat, drehte sich der Wind allerdings. Seine Studie über „Die Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (1985) ist ebenso zum Standardwerk geworden wie jene über die brüderlichen Hilfsdienste der christlichen Kirchen für Nazis nach dem Krieg (1995) oder jene über die NS-Medizin und ihre Opfer (1997) – ein Buch, das selbst ein Ärzteblatt zur „Pflichtlektüre für Ärzte“ erklärte.

Im Frankfurter Büro Pehles hängt ein Plakat an der Wand, das das Engagement des Lektors mit einem einzigen Satz erklärt: „Dem Publikum neue Werke aufzudrängen, die es nicht will, ist die wichtigste und schönste Mission des Verlegers.“ Der Satz stammt vom Verlagsgründer Samuel Fischer, und nicht einmal die alerten Consulting-Burschen, die aus jedem Buch ein „Profit-Center“ machen möchten und deshalb den Verlag jüngst auf Einsparpotenziale durchleuchteten, wollten dem Satz im Blick auf Pehles Aufklärungsprogramm widersprechen.