Aprilplenumsfilme

Pünktlich zum 83. Jahrestag der Oktoverrevolution: „Back in the USSR“  ■ Von Alexander Mirimov

In diesen Tagen startet das Metropolis Kino eine auf drei Monate angelegte Filmreihe mit dem vielversprechenden Namen „Back in the USSR“. Wie sich leicht vermuten lässt, geht die Reise nach Moskau. Ihr Ziel ist eine filmische Expressdiagnose über die Möglichkeiten eines Lebens nach dem Tod – gemeint ist der vermeintliche Tod des russischen Films am Anfang der 90er Jahre. Ist ein Leben nach Tarkovskij doch möglich? Die Veranstalter meinen: Ja. Um es zu beweisen, fangen sie ganz vorne an: im Jahr 1984. Die Kenner der russischen Geschichte werden sich sofort an das Ereignis erinnern, das unter dem Namen „Aprilplenum der KPdSU“ bekannt geworden ist und ... ja, richtig: die Perestrojka ins Leben gerufen hat. Der mittlerweile fast kitschig klingende Begriff prägte nachhaltig die Geschehnisse in Russland und leitete anschließend die größte Identitätskrise seiner neueren Geschichte ein. Aber zuerst hieß es wieder: „Erst wenn wir sie vertrieben haben, dann scheint die Sonn' ohn' Unterlass!“ An diese glückliche Zeit erinnert der erste Teil der Reihe.

Aus dem Jahr 1984 stammt Mein Freund Iwan Lapschin von Alexej German. Der am Vorabend der Perestrojka gedrehte Film des inzwischen von vielen als „der größte russische Regisseur der Gegenwart“ angesehenen Leningrader Künstlers, wurde sofort nach seiner Entstehung verboten und kam erst 1986 auf die Leinwände, nachdem die sogenannten „Regal-Filme“ (die circa 250 in den 60ern, 70ern und Anfang der 80er gedrehten Streifen, die von der sowjetischen Zensur verboten worden waren und in einem Spezialarchiv aufbewahrt wurden) freigegeben worden waren. Das Werk ist eine Hommage an die 30er Jahre und wirkt heute moderner denn je, dank seinem von Schemata und (Vor-)Urteilen befreiten Herangehen an die Geschichte und einer Kamera, die stellenweise an die Dogma-Filme erinnert.

Mit Halte still – stirb – erwache, dem 1990 in Cannes prämierten Streifen von Vitalij Kanevskij, steht ein weiteres Meisterwerk der Geschichtsrekonstruktion im Programm. Dieser autobiographische Film über die Freundschaft und Liebe zweier Kinder spielt zwei Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs in einer kleinen Industriestadt im fernen Osten – die allerdings eher an ein Straflager erinnert. Er bietet eine gelungene Mischung aus einer Schocktherapie „à la russe“ und einem Filmgenuss à la Nouvelle Vague.

Die beiden anderen Filme des November-Repertoirs, Sergej Solowjovs Assa und Taxi-Blues von Pavel Lungin, spiegeln in erster Linie die Zeit wider, in der sie entstanden sind, und sie sind zugleich eine Art Selbstinszenierung der damaligen, facettenreichen russischen Underground-Kultur. Trotzdem besteht zwischen den beiden ein wesentlicher Unterschied: Assa, der als erster russischer Kultfilm der neueren Zeit und erster bedeutender Film der russischen Postmoderne in die Geschichte eingegangen ist, war grundsätzlich auf das russische Publikum zugeschnitten und lebt von seinem unmittelbaren Kontext, während der von dem Franzosen Marin Karmitz produzierte Taxi-Blues – eine der ersten Koproduktionen überhaupt – von Anfang an den Anforderungen des westlichen Marktes angepasst war und damit eine neue Ära im russischen Filmwesen einleitete: eine Ära des fließenden Übergangs von der Zensur nach ideologischen Maßgaben zur nicht weniger wirksamen „ökonomischen“ Zensur mit allen daraus resultierenden Folgen.

„Not macht erfinderisch“ heißt es im Sprichwort. Es hat aber Jahre gedauert, bis die in ihrem Kampf gegen den Staat abgehärteten russischen Filmemacher ein Gift gegen den Markt gefunden hatten. Wie ihnen das gelungen ist, ist dann im Dezember und Januar zu sehen. Diese Woche heißt es: die letzten Beispiele eines „zensurfreien“ russischen Kinos genießen. Willkommen an Bord!

Mein Freund Iwan Lapschin (OF): 12.11., 17 Uhr; Halte still – stirb – erwache (OmU): 9.11., 19 Uhr + 11.11., 17 Uhr; Assa (OmU): 10.11., 17 Uhr (anschließend Konzert der Gruppe Aquarium in der Markthalle) + 12.11., 19 Uhr; Taxi Blues: 11.11., 19.30 Uhr (anschließend Live-Performance des Saxofonisten Wladimir Tschekasin) + 13.11., 17 Uhr, Metropolis