Fassungslos vor Glück

Die USA wissen nicht, was sie mit sich und ihrem Wohlstand anfangen soll. Das Land ist ratlos

aus Washington PETER TAUTFEST

Die USA erleben den längsten Boom ihrer Geschichte und absorbieren nahezu mühelos die größte Einwanderungswelle seit 100 Jahren. Sie sind unangefochten die stärkste Wirtschafts- und Militärmacht aller Zeiten und erfreuen sich noch nie da gewesenen Wohlstands, das Land lebt in Frieden – und kann sich nicht entscheiden.

Die USA wissen nicht, ob sie Wechsel oder Kontinuität wollen, ob sie nach links oder rechts wollen, was sie mit sich und ihrem Glück anfangen sollen. Unabhängig davon, wer am Ende Präsident wird – die Wahl offenbart ein sauberes Splitting, eine Zweiteilung der Nation. Von rund 200 Millionen Wahlberechtigten hat ungefähr die Hälfte gewählt, und die wieder hat je zur Hälfte Gore und Bush, Republikaner und Demokraten gewählt.

Etwa die Hälfte der befragten Wähler gab an, bei ihrer Wahl an Clinton gedacht zu haben, und davon wiederum hat die Hälfte für Bush gestimmt; die Küstenregionen für Gore, das Landesinnere für Bush; der Norden und Nordwesten für Gore, der Süden und der Westen für Bush; Gewerkschaften, Minoritäten und Frauen haben eher Gore gewählt, Männer, Besserverdienende und Selbstständige eher Bush; die städtischen Zentren haben Gore, die ländlichen Regionen Bush gewählt.

Das umworbene Suburbia aber, jene ausufernden Stadtrandsiedlungen, in denen inzwischen mehr als die Hälfte aller Amerikaner wohnen, hat ziemlich akkurat zur Hälfte für Gore und zur Hälfte für Bush gestimmt. Die Mehrheit der Amerikaner ist mit der „Richtung des Landes“ zufrieden, und die Mehrheit ist zugleich mit der „moralischen Lage“ der Nation unzufrieden. 4 von 10 Wählern – also ebenfalls fast die Hälfte – haben ihre Stimme mit inneren Vorbehalten abgegeben.

In beiden Häusern des Kongresses bleiben die Republikaner in der Mehrheit, doch die ist so klein geworden, dass beide Seiten sich blockieren können und keine ihre Ziele verwirklichen kann. Welche Partei am Ende auch das Weiße Haus gewinnt, Verlierer sind beide, und beide dürften einige Mühe haben, herauszufinden, was sie hätten anders machen sollen, um zu gewinnen.

Hätte Clinton stärker in den Wahlkampf eingreifen sollen? Das hätte wahrscheinlich genauso viele Wähler abgestoßen, wie es hinzugewonnen hätte. Schwieriger als Schuldzuweisung ist es, herauszubekommen, was die Wähler ihren Politikern eigentlich mit ihrem Votum sagen wollten.

Die Kandidaten hatten deutlich unterschiedliche Visionen entworfen; sie hatten auf Persönlichkeit und Integrität einerseits, auf Programm und Erfahrung andererseits gesetzt; hatten Steuersenkung oder Sozialprogramme als Alternative angeboten. Was will nun der ideelle Gesamtwähler? Beides oder keins von beidem?

Amerikas Wählern ist Apathie nachgesagt worden, weil höchstens die Hälfte zur Wahl geht. Die Zahlen trügen. In den großen Bevölkerungszentren wie in den Landkreisen um Washington, New York, Los Angeles, San Francisco, Seattle, Madison, Chicago lag die Wahlbeteiligung bei 80 bis 85 Prozent. Viel Aufschluss aber gibt ihr Mandat den Politikern nicht. Und die werden nicht viel tun können.

Wer Präsident wird, gibt zwar die Agenda vor – Clinton konnte mit einer Minderheit im Parlament sehr gut regieren –, viel bewegen aber kann er ohne den Kongress nicht. Weder Steuersenkungen noch der Umbau des Sozialversicherungswesens können so in Angriff genommen werden, weder kann eine Raketenabwehr auf-, noch können Handelsschranken abgebaut werden. Das Land scheint zur Immobilität verurteilt zu sein – oder zu einem Neuanfang.

So gehen denn auch zunächst die Meinungen über die Bedeutung dieses Splittings auseinander: Verfassungskrise oder Ausdruck lebendiger Demokratie? Das Patt ist in der Verfassung vorgesehen, doch vorgekommen ist die heutige Situation noch nie – in dieser Konstellation jedenfalls nicht. Auf dem Höhepunkt seiner Macht scheint Amerika der Welt das Schauspiel seiner Immobilität zu geben. In Amerikas Straßen tobt kein Machtkampf, die Spannung aber weicht nicht von dem Land, und der endlose Wahlkampf ist nicht beendet, bevor es keine legitimierte politische Führung gibt.

George W. Bush ist als Politiker angetreten, der sich zutraut, widerstreitende Parteien und Interessen zusammenzubringen. Das war gegen Ende seines Wahlkampfs sein Mantra: „Ich will in Washington das Gezänk überwinden und den Ton ändern.“ Sollte er am Ende Präsident werden, dürfte er sich das Richtige vorgenommen haben. Ob er zuwege bringen kann, was er sich zum Ziel gesetzt hat, ist eine andere Frage. Der texanische Sonnyboy könnte in eine der schwierigsten Aufgaben aller Zeiten gestolpert sein. In Washington wird die nächsten vier Jahre einvernehmlich oder gar nicht regiert werden.