It’s Florida, stupid!

Gore. Bush. Oder doch Gore? Bevor Floridas Stimmen nochmal gezählt sind, ist jede Freude zu früh

aus Washington PETER TAUTFEST

„Keinem Produzenten könnte ich diese Geschichte anbieten“, sagte Bob Reiner ein Filmemacher, der als Anhänger Al Gores nach Nashville gekommen war, um den Sieg seines neuen Präsidenten zu feiern, „zu unglaublich, was sich hier abspielt“. So verrückt ist in der Tat seit Menschengedenken, ja in der Geschichte Amerikas keine Wahlnacht verlaufen. In den Senat wurden ein toter Gouverneur und eine sehr lebendige First Lady gewählt. „Only in America ...“, kann man dazu nur sagen – so was kann nur in Amerika vorkommen. Doch das war noch gar nichts.

Die Nacht, der die Medien seit 17 Monaten entgegenfieberten, die Nacht nach dem längsten und teuersten Wahlkampf aller Zeiten wollte und konnte kein Ende nehmen. Als der Morgen graute, hatte Amerika noch keinen neuen Präsidenten. Weder war der alte beerbt worden, noch hatte er seinen Nachfolger gefunden. Dafür feierte Bill Clinton in New York den Wahlsieg seiner Frau Hillary. Wahlkampf wie noch nie, und kein Ergebnis.

Gegen halb drei Uhr morgens war George W. Bush zum Sieger erklärt worden, die 25 Wahlmännerstimmen aus Florida waren an ihn gefallen. In Austin klappten die 20.000 Menschen, die sich vor dem Landtag eingefunden hatten, die Schirme zu, denn der kalte Regen, in dem sie ausgeharrt, hatte sich verzogen. Freude kam auf. Man streckte tanzend drei Finger (für W – wie in George W. Bush) in die Luft und jubelte. Dafür regnete es jetzt in Nashville, wo es aussah, als müsse Gore von seinem Lebenstraum Abschied nehmen.

Während in Austin die Menschen auf Bush und seine Siegesansprache wartete, standen in Nashville die Menschen ziemlich bedröppelt herum. Gore wurde erwartet, der die in solchen Situationen übliche Konzessionsrede halten sollte. Doch Gore ließ seine Leute – buchstäblich – im Regen stehen und schickte seinen Wahlkampfleiter Bill Daley vor. Es stimmte etwas mit der Stimmenauszählung in Florida nicht. Florida hatte vielleicht doch nicht für Bush gestimmt. Zum zweiten Mal in dieser Nacht war Florida falsch geschätzt und vorschnell vergeben worden. Früh am Abend hatten Hochrechnungen ergeben, dass der Staat an Al Gore ging, womit dessen Sieg vielleicht nicht sicher, aber doch sehr wahrscheinlich war.

Nach erneutem Zweifel am Wählerwillen Floridas hielt um drei Uhr morgens die New York Times die Druckmaschinen an. In Austin begannen die Menschen nach Hause zu gehen, dafür kam jetzt in Nashville Freude auf. Judy Woodruf vom CNN, der man um fünf Uhr morgens anzusehen begann, dass sie seit zwölf Stunden berichtete, analysierte und kommentierte, wurde albern und fragte, ob man jetzt nicht vielleicht ein UFO auf dem Vorplatz des War Memorials in Nashville erwartete. Beim öffentlich-rechtlichen Radiosender NPR hatte der Moderator Scott Simon Mühe, ernst zu bleiben. Im ganzen Lande wussten Parteigänger Gores und Bushs nicht, ob sie lachen oder weinen sollten.

Dabei hatte der Abend vergleichsweise harmlos begonnen. Trotz allen Unkens schien sich eine vergleichsweise schnelle Entscheidung anzubahnen. Als Gore nacheinander Florida und dann noch die unsicheren Staaten Illinois, Michigan und schließlich sogar Pennsylvania gewann, schien er das Rennen zu machen. CNN brachte Bilder aus dem Amtssitz des Gouverneurs von Texas, wo die ganze Familie Bush versammelt und reichlich deprimiert herumsaß. Doch dann mussten die Hochrechnungen für Florida zurückgenommen werden. Florida galt wie Wisconsin und Oregon – eigentlich demokratische Staaten, in denen die Stimmen für die Grünen einen Wahlsieg Gores zweifelhaft erscheinen ließen – als unentschieden. Das lange Hangen und Bangen begann. Bush gewann auf einmal Gores Heimatstaat Tennessee und Bill Clintons Arkansas – Blamagen für die scheidende Regierung. Und als eine neue Hochrechnung Florida Bush zusprach, schien der 43. US-Präsident gewählt zu sein.

Die Entscheidung in Florida aber war zu knapp. Je nach Auszählungsstand betrug der Stimmenabstand erst 1.200, dann 240 und zuletzt 900 Stimmen. Für den Grünen Nader hatten derweil ungefähr 100.000 Wähler gestimmt, mindestens zehn Mal so viel, wie Gore brauchte, um klar über Bush zu siegen. Doch wenn der Abstand zwischen den Kandidaten unter einem halben Prozent der Stimmen liegt, sieht das Gesetz in Florida eine Neuauszählung vor. Floridas Justizminister schickte jedoch seine Auszähler erst einmal für ein paar Stunden Schlaf nach Hause.

Hatte es lange so ausgesehen, als würde Bush die Mehrheit der Wählerstimmen gewinnen – ganz unabhängig davon, wer die Mehrheit der Wahlmännerstimmen gewinnen würde – begann sich gegen vier Uhr morgens das Verhältnis von Wahlmänner- und Wählerstimmen umzukehren. War in Spekulationen immer eher davon ausgegangen worden, dass Bush zwar die allgemeine Wahl, Gore aber möglicherweise durch die Mathematik des Wahlmännerkolegiums gewinnen könne, sieht es jetzt eher so aus, als würde Bush, wenn überhaupt, mit einer Minderheit der Stimmen und einer Mehrheit der Wahlmänner Präsident.

Bei insgesamt ungefähr 100 Millionen abgegebenen Stimmen hat Gore rund 600.000 Stimmen mehr als Bush. „In Jahren, ach, was sage ich, in Jahrzehnten wird man von dieser Wahl reden“, sagte Jeffrey Greenfield im CNN, „um zu zeigen, dass jede Stimme zählt.“ Die Wahl des Präsident der USA wird an einigen wenigen hundert Stimmen in Florida hängen. „Wahl in Aspik“, sprach derweil Vicky Barker von der amerikanischen Ausgabe des BBC. Amerika und die Welt schaut auf einen Filmriss. Das Kino ist aus, die Zuschauer werden gebeten fürs Erste nach Hause zu gehen.