Tiefes Summen in der Dokumentation

Auch der Geheimrat von Goethe war schon ein Kiffer, meint der „Spiegel“ und verkündete die „Kokain-Gesellschaft“. Nur leider saß das hoch gerühmte Archiv einer sieben Jahre alten Satire auf. Schuld sind wie immer die Schweizer

1985 fiel Fritz J. Raddatz, damals Chef des Zeit-Feuilletons, auf ein erfundenes Goethe-Zitat der Neuen Zürcher Zeitung herein. Der notorische Schnelldenker und -schreiber erkannte nicht, wie in Martin Meyers Glosse dem Ort, an dem heute die Frankfurter Buchmesse in der Nähe des Hauptbahnhofs stattfindet, goethesche Weihen nebst Zugfahrt angedichtet wurden. Nun fuhr zu Goethes Lebzeiten nirgends in Deutschland eine Eisenbahn. Raddatz musste gehen. Aber geschlafen hatte eine ganze Redaktion.

Beim Spiegel werden seit geraumer Zeit die Artikel namentlich gezeichnet, aber dass der größte Teil der Texte nach wie vor aus Archivmaterial destilliert wird, ist nicht zu verkennen.

Wer von den nicht weniger als elf für die Titelstory der letzen Woche zeichnenden Redakteure – alle aus der ersten Riege – also verantwortlich ist für eine Fehlleistung, die die von Raddatz übertrifft, wird wahrscheinlich nie auszumachen sein. Dabei war die Titelstory der letzten Woche Frischgeschlachtetes: „Die Kokain-Gesellschaft“. Der entschwundene Fußballtrainer machte es möglich, und womit beginnt für den Spiegel die „Kokain-Gesellschaft“, wenn nicht mit deutscher Klassik? Gleich zu Beginn schaute wenigstens ein archivgläubiger Redakteur bei Goethen und Schillern nach. Schiller im Bett: „Während eines Beischlafs, wobey er brauste und stampfte“, nahm er „nicht weniger als 25 Prisen“ – allerdings bloß Schnupftabak.

„Haschischpfeifchen“

Und wo Schiller ist, kann Goethe nicht weit sein als „Freund und Rivale“. Der trieb es natürlich eine Nummer härter mit einem „Haschischpfeifchen“, das bei ihm „ein eigentümliches Gefühl, begleitet von einem tiefen Summen“ erzeugt habe. Nicht schlecht als Einstiegsdroge zum publizistischen Daum-Delirium.

Doch jetzt hat der Journalist Constantin Seibt von der linken Zürcher Wochenzeitung (WoZ) in der Schweizer Sonntagszeitung klargestellt, wie es zu den vermeintlichen Schiller- und Goethe-Zitaten im Spiegel gekommen ist: Schon 1993 erhielt Seibt von der WoZ-Redaktion den Auftrag, einen Beitrag über Haschisch zu schreiben – hübscherweise für die Weihnachtsnummer. Seibt hatte nach eigenem Bekunden damals wenig Lust, sich zum x-ten Mal ernsthaft den Drogen zu widmen, und hielt sich deshalb an die bildungsbürgerliche Devise, die jetzt beim Spiegel alle Sicherungen durchknallen ließ: Im Ernstfall Klassiker.

Nun ist Seibt kein Fälscher, sondern ein Satiriker. Das belegt der Vorspann seines Artikels, in dem er berichtete, die Drogen-Story der Weimarer und Jenaer Oberklassiker hätte sich sensationellerweise „im Aktenschrank der Magdeburger Stasi-Zentrale“ gefunden – was, so Seibt, eigentlich jeden Lokalredakteur in Fulda hätte „misstrauisch machen müssen“. Aber diese Normalität ist längst unter die Räder des Aktualitätsfetischismus geraten. Beim Spiegel reagierte man denn auch auf Seibts Klarstellung mit einer Mischung aus Betretenheit und arrogant herumpflaumender Panik: Nicht aus der WoZ habe man die vermeintlichen Belege, sondern aus einer Dissertation, die unter dem Titel „Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik“ 1995 im ehrwürdigen Metzler-Verlag erschienen ist.

Das stimmt auch. Nur: Als Beleg für Goethes Hanfkonsum zitiert da der Doktorand die Zeit vom 21. 1. 1994. Da hatte das Hamburger Blatt nämlich Seibts WoZ-Artikel nachgedruckt.

Die WoZ fordert vom Spiegel nun „eine Berichtigung – im Namen von Goethe sowie aller Deutschlehrer und Germanisten, denen wir nicht zumuten wollen, dass sie noch einen weiteren Text interpretieren müssen“. RUDOLPH WALTHER