Zu Hause im Offbeat

Der Spirit, die Vibes, die Weisheit: Die MCs Tolga und D-Flame sind Pioniere der wachsenden Reggae-Szene in Deutschland. Auf voller LP-Länge vermitteln sie nun, auf Deutsch und Patois, was sie bei ihren Aufenthalten in Jamaika erfahren haben

von THOMAS WINKLER

Am letzten halbwegs warmen Tag dieses Spätsommers schwitzen vor der Columbiahalle, gegenüber dem Flughafen Berlin-Tempelhof, kleine Jungs tapfer unter ihren Strickmützen. Zwar sind die Temperaturen weit von jamaikanischen Kategorien entfernt. Hinter der Bühne aber, im Backstage-Bereich, hat die Luft bereits eine THC-Dichte erreicht, wie sie auch in Kingston nicht alle Tage vorkommen dürfte.

In den Pausen zwischen den Joints erzählt Danny Kretschmar, wie er als Sohn eines G.I.s mit allein erziehender Mutter in Frankfurt am Main aufwuchs, manchmal nichts zu beißen hatte, mit HipHop anfing, irgendwann beim Reggae landete und schließlich beim Dancehall. Wie er eine neue, eine zweite Familie fand in Jamaika. Wie er sich zurück in der Heimat die Hacken ablief nach einem Plattenvertrag und zu hören bekam, er sei „zu reell, die Leute wollten aber der Realität entfliehen“. Erzählt, wie er sich als VJ bei einem Musiksender bewarb und abgelehnt wurde mit der Begründung, man wolle jetzt lieber einen Moderator mit hellerer Hautfarbe, mit dem sich die avisierte Zielgruppe leichter identifizieren könne. Danny Kretschmar erzählt, wie er zu dem wurde, was er ist, nämlich D-Flame, der erste deutschen Reggae-MC, der seine Muttersprache für seine Reime benutzt.

„Auch wenn ich hier groß geworden bin“, sagt D-Flame, „bin ich immer noch ein schwarzes Kind, das hier groß geworden ist.“ Folgerichtig heißt sein erstes, aktuelles Album also zweideutig „Basstard“. In einem tief grollenden, meist nur mehr sanft hessisch eingefärbten Timbre beweist D-Flame, dass Reggae auf Deutsch geht. „Irgendwie sind wir ja alle one people“, meint er, „verschtehscht du?“ Dass Reggae auf Deutsch sein kann, das hatten zwar zuvor schon Freundeskreis mit ihrer Dub-Version der alten Ton-Steine-Scherben-Schnulze „Halt dich an deiner Liebe fest“ und Absolute-Beginner-Mastermind Eißfeldt mit seiner Offbeat-Ausgabe von Nenas „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“ vorgeführt. Hier aber findet das Experiment erstmals auf voller LP-Länge statt.

Und trägt auch über LP-Länge. Als prominentester Gast aus Übersee tritt Guru von Gang Starr auf, aber die Riddims hat vor allem die eigene Crew aus Frankfurt gebastelt, wenn auch unterstützt von Originalen aus Jamaika. Und einigen der HipHop-Branchenführer aus Hamburg. So haben nicht nur Dynamite Deluxe mit Hand angelegt, sondern Eißfeldt selbst. Der nimmt auch das Mikro in die Hand und steuert sein unverwechselbares, polypenschwangeres Näseln bei. Schließlich ist „Basstard“ die erste große Eigenproduktion seines eigenen Labels Eimsbush, wenn auch in Koproduktion mit einer Major-Plattenfirma. So wird der Gastauftritt ganz nebenbei zur Investition ins eigene Business.

Dass sich auf dem D-Flame-Debut jeder rumzutreiben scheint, der sich in einem Offbeat nicht sofort verirrt, ist nicht verwunderlich. Schließlich sind nicht nur im HipHop, sondern fast noch mehr im Reggae und Dancehall Kollaborationen und Gastauftritte unverzichtbar. Überraschend ist eher, dass der Frankfurter Kollege Tolga fehlt. Schließlich ist man befreundet und geht gern zusammen auf Tour. Tolga hat ebenfalls sein erstes Album herausgebracht, auf dem neben Max vom Freundeskreis und Afrob auch D-Flame dabei ist. Ansonsten wird auf „Now That I Am Here“ im Verein mit diversen jamaikanischen Größen meist auf Englisch und Patois, dem Idiom der Rastafaris, gesungen und gerappt.

D-Flame und Tolgas gemeinsame Single heißt „Highssgeliebtes Gras“. Der gelernte Bürokaufmann Tolga Üzbek hat momentan keinen Führerschein mehr. Der Grund: Kiffen am Steuer. „Das wird mich nicht davon abhalten“, grinst Tolga. „Das wird mich nur inspirieren, noch ein Lied darüber zu schreiben.“ Das Gespräch mit dem Deutschtürken findet allerdings im Berliner Büro seiner Plattenfirma statt, das wahrscheinlich drogenfreier ist als eine durchschnittliche Bundestagstoilette. Tolga fährt das komplette Womanizer-Programm: Stimme und Lächeln sind stets gut geölt, der Dreitagebart akkurat auf Länge, der Zopf sorgfältig geflochten. „Das ist die Musik, die ich fühle“, sagt er. Und: „Jeder glaubt, dass seine Brötchen am besten schmecken, aber gemeinsam ist man stärker als allein.“ Schließlich: „Man sollte niemanden nach seinem Aussehen beurteilen, man sollte in die Seele schauen.“

Es ist die Liebe, die aus diesen Worten spricht, die Liebe zu jedem Menschenkinde. Auch deutschen Menschenkindern wollen Tolga und D-Flame nun vermitteln, was sie in vielen Aufenthalten auf Jamaika erfahren haben: Den Spirit, die Vibes, die Weisheit eines leicht verzögerten Dub-Rhythmus. Nicht selten fallen Sätze wie „Du musst da gewesen sein, um das verstehen zu können“. Sätze, die festklopfen sollen, dass es hier weiterhin um Geheimwissen geht. Dass man zwar bereit ist, die Party hierher zu transportieren, aber vorerst noch die Definitionsmacht behalten möchte.

Natürlich: Es dürfte kaum eine Szene geben, die so von Geheimwissen durchdrungen, durch Exklusivität definiert und über Beziehungen organisiert ist wie die jamaikanische. Im Gegensatz zu anderen Genres kann man als DJ nicht einfach in den nächsten Plattenladen spazieren und sich das aktuelle Beschallungsmaterial in eine Plastiktüte packen lassen. Man muss schon selbst nach Jamaika, um sich dort von den gerade angesagten Sängern und MCs Dub Plates aufnehmen zu lassen. Denn erst das DJ-Kollektiv, das exklusive Tracks auflegen kann, wird zum echten Sound System. Die Geschäftspraktiken jamaikanischer Produzenten sind seit Jahrzehnten berüchtigt, Waffenbesitz durchaus Verhandlungsbasis. So wird nach der glücklichen Heimkunft gerne mal erzählt, wer sich wie über den Tisch hat ziehen lassen müssen.

Die Sound Systems brauchen die Vokalisten, um sich von ihnen Dub-Plates schneiden zu lassen, die Sänger die DJs, um ihre Tracks bekannt zu machen. Dieses System aus gegenseitigen Abhängigkeiten gehört zum Reggae fast ebenso unverbrüchlich wie der Hanf. Ein Liedermacher braucht nur sich und sein Kämmerlein, ein Reggae-Toaster dagegen eine funktionierende Szene. Die aber ist in Deutschland erst noch am Wachsen. Neben Tolga und D-Flame gibt es bislang an Vokalisten nur noch Gentleman und Patrice.

Hochgeschraubt waren die Erwartungen durch einen Sommer, in dem zuerst allerorten ein Reggae-Boom prognostiziert worden war. Trotzdem hat sich etwa „Ancient Spirit“, das wundervoll kitschige Album von Patrice, bislang nur um die 25.000 Male verkauft. Aber es hat sich schon etwas geändert: „Vor drei Jahren sind die Leute noch von der Tanzfläche gegangen, wenn man Dancehall aufgelegt hat“, erzählt Tolga, „mittlerweile ist es zu dick, um es übersehen zu können“. Die Abende, die das knappe halbe Dutzend halbwegs professioneller Sound Systems in den Clubs ihrer Heimatstädte veranstalten, sind oft die am besten besuchten. Pow Wow Movement aus Köln wurden unlängst sogar zum World Clash, so etwas wie der inoffiziellen Weltmeisterschaft der Sound Systems, nach New York eingeladen (siehe taz vom 19. 10.). Und Tolgas musikalischer Partner Pionear ist der erste deutsche Beatbastler, der einen Riddim aufgenommen hat, den auch jamaikanische Künstler benutzen.

Hier geht also was. Aber: „Boom ist Boom – der kommt, und dann geht er wieder“, befürchtet Tolga, „die Pflanze soll aber nicht schnell wachsen und dann wieder kaputtgehen.“ D-Flame dagegen ist sich sicher, dass seine Nachfolger längst in den Startlöchern stehen: „Da gibt es bestimmt schon welche, die sagen, ey, D-Flame ist whack, den mach ich fertig.“ Sein Album „Basstard“ ist nur ein Anfang. Ein bisweilen technisch und musikalisch brillanter Anfang, thematisch dafür aber teilweise erschreckend eindimensional. Und geprägt von einem arg romantisierenden Blick auf Jamaika, der bisweilen in die Nähe rassistischer Stereotypen rückt. Textbeispiel: „Ich bin verliebt/ Also widme ich dieses Lied / Meiner Perle in der Karibik.“

Tolga schneidet zwar mehr Themen an, aber wer versteht hierzulande schon Patois? Den jamaikanischen Dialekt will Tolga sich auch in Zukunft bewahren , wegen „der Originalität und der Internationalität“. Aber auch ihm ist klar, dass wohl bald eine ähnliche Entwicklung wie im Rap stattfinden und Deutsch immer mehr die Originalsprache verdrängen wird. „Auf jeden Fall denke ich dran, mehr auf Deutsch zu singen oder andere Sprachen einzubeziehen. Spanisch wär mal cool.“

Die Selbstverständlichkeit, die Hamburger Schule und DeutschHop geschaffen haben, dass jede Sprache mit jeder Musik geht, die ist schon da. Nun fehlt nur noch der Reggae-Nachwuchs. Aber als die ersten deutschsprachigen HipHop-Acts auftauchten, da konnte man sich auch noch nicht vorstellen, dass eines Tages einmal die halbe Republik rappen würde. Noch aber ist es nicht so weit: Dancehall ist noch kein Massenthema, und D-Flame an diesem Abend in der Columbiahalle noch nicht der Headliner, sondern nur einer unter vielen in einem langen Line-up. Die wenigstens im hauptsächlich minderjährigen Publikum dürften seinen Namen schon einmal gehört haben. Draußen scheint noch die Sonne auf Tops und Elefantenhosen. Drei Mädchen, kaum 15 Jahre alt, beschimpfen die vierte im Bunde, weil sie die Glut aus dem eher amateurhaft gerollten Joint hat fallen lassen: „Bist du dämlich?“ Backstage ist man da versierter. Ein paar tight gerollte Spliffs später werden sie D-Flame schon kennen lernen. Dann wird er das Haus rocken.

D-Flame: „Basstard“ (Eimsbush/Mercury), Tolga: „Now That I Am Here“ (Downbeat/Topp/WEA)