Eine knappe Mehrheit ist noch keine Krise

Der Wahlausgang erschüttert zwar nicht die Demokratie, macht aber elegante Lösungen erforderlich

WASHINGTON taz ■ Ein knapper Wahlausgang ist noch keine Verfassungskrise. Erst wenn der Verdacht besteht – und mit Eifer verfolgt wird –, dass sich hinter einer hauchfeinen Mehrheit Betrug verbirgt, wird die Legitimität des demokratischen Machtwechsels in Frage gestellt. Für das, was sich zur Zeit um die Kandidaturen Gore und Bush abspielt, gibt es einen Präzedenzfall. Vor 40 Jahren gewann John F. Kennedy mit 113.000 Stimmen Vorsprung gegen Richard Nixon bei abgegebenen 68 Millionen Stimmen – geradezu ein Erdrutsch verglichen mit Gores Stimmenvorsprung von 98.000 Stimmen bei nicht ganz 100 Millionen abgegebenen Stimmen. Anders als im Falle Kennedys aber, wo die Wahl im so genannten Electoral College den knappen Stimmenvorsprung in eine satte Mehrheit von 303 zu 219 Wahlmännerstimmen verwandelte, wird im Falle Gore/Bush das Electoral College mit den 25 Wahlmännern aus Florida Bush den Wahlsieg zuspielen. Nicht darin besteht die Verfassungskrise, das Verfahren ist von der Verfassung so vorgesehen.

Das Verfahren wirft allerdings die Frage auf, ob das Electoral College nicht abgeschafft gehört – ein Relikt des Misstrauens, das Amerikas Verfassungsväter gegen den Plebs und dessen unmittelbare Beteiligung am politischen Prozess hegten. Der Vorwurf, dass Kennedy damals Nixon die Wahl durch Manipulationen der Stimmen in Texas und Illinois gestohlen hat, ist schon Bestandteil amerikanischer moderner Mythologie – ebenso wie Nixons noble Geste. Um Schaden von Amerikas Demokratie abzuwenden, verzichtete Nixon damals auf eine Untersuchung der nie bewiesenen Vorwürfe und konzedierte Kennedy den Sieg. „Das ist es, was von Gore erwartet wird, dass er dem Beispiel Nixons folgt“, meint Robert Livingston von der John Hopkins University: „Wenn Gores Leute die Auszählergebnisse und die Wahlen in Florida anfechten und einen langwierigen Prozess einleiten, nimmt Amerikas Demokratie Schaden.“

Der Fall Gore liegt allerdings anders als der Nixons. Dazu trägt nicht nur die Knappheit des Vorsprungs von Bush in Florida bei – wenn es denn ein Vorsprung Bushs wird – sondern auch das Quasi-Patt in beiden Häusern des Kongresses, das ein Regieren unmöglich macht, sowie die vergiftete politische Atmosphäre Washington. Man stelle sich das mal vor: Seit sechs Monaten hat der Fraktionsvorsitzende der Demokraten Richard Gephardt mit seinem Republikanischen Counterpart im Repräsentantenhaus nicht mal geredet.

„Eine Konzession Gores hätte ihren Preis“, sagt Thomas Mann, Experte für die amerikanische Regierung am Washingtoner Brookings-Institut. Thomas Mann schwebt so etwas wie eine große Koalition vor. Eine große Koalition in Amerika, in einem präsidialen Regierungssystem? Mindestens eine originelle Idee! Wie das funktionieren soll, erklärt Mann so: „Es wäre ein Deal außerhalb des Verfassungsrahmens, der angesichts knapper parlamentarischer Mehrheiten das Regieren erst möglich machen würde“.

Und so könnten die Umrisse einer solchen Abmachung zwischen dem Gore- und dem Bush-Lager aussehen. Bush verzichtet auf seine grandiose Steuersenkung von 1,2 Billionen Dollar, an der die Wähler ohnehin nicht sonderlich interessiert zu sein schienen. Ein Drittel der amerikanischen Wähler zahlen ohnehin keine Steuern, alle Lohnempfänger aber leiden unter den hohen Sozialabgaben. Ihnen einen Teil dieser Abgaben in Form der Verfügungsgewalt über zwei Prozent ihrer Rentenbeiträge zurückzugeben – zumal diese Idee Bushs sehr populär ist – das also wäre der Deal: Verzicht auf Steuersenkung im Tausch gegen Teilprivatisierung der Rente.

Ein anderer Kompromissbereich könnten Bundesausgaben für Bildung sein. Geld für Schulen wollen beide Seiten ausgeben, nur wollen die Republikaner den Ländern die Verfügungsgewalt darüber lassen, während die Demokraten Auflagen machen wollen, weil sie Angst haben, die Bundesstaaten könnten mit dem Geld sonst was machen. Beide Seiten könnten sich einigen, Bundesmittel ohne Auflagen freizugeben, und die Republikaner verzichten ihrerseits für eine Weile darauf, ihre Voucher-Idee zu verfolgen – jene Idee, das Schulgeld in Form von Gutscheinen an Eltern zu vergeben, damit sie ihre Kinder davon auch auf Privatschulen schicken können.

Solch ein Deal würde die Entmachtung von gewissen Kurfürstengestalten im Kongress voraussetzen, von Leuten wie etwa dem Texaner Tom DeLay, der mit Leidenschaft Clintons Impeachment betrieben hatte. Jemand wie John McCain müsste die Rolle eines Verbindungsmannes zwischen Weißem Haus und Senat übernehmen. PETER TAUTFEST