„Ich habe genug Skandal gehabt“

In den Sechzigerjahren zählte Will McBride zu den innovativsten Fotografen. Der Amerikaner ist nun wieder zurück in Berlin. Ein Gespräch über die Kunst, die Jugend und die Wechselfälle der Karriere

von REINHARD KRAUSE

Will McBride, 69, amerikanischer Fotograf, Maler, Bildhauer und Buchautor, lebte von 1955 bis kurz vor Mauerbau 1961 in Berlin. Seit einem Jahr ist er zurück in der Stadt. Ab heute zeigt die Berliner Galerie „Camera Work“ eine McBride-Retrospektive mit Fotos aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren; ab Freitag öffnet McBride sein Atelier in der Neuen Schönhauser Straße 10 zehn Tage lang für Besucher.

taz: Mr. McBride, Sie leben und arbeiten wieder in Berlin. Ist ihnen Frankfurt zu ruhig geworden?

Will McBride: Das Leben in Frankfurt am Main wurde am Ende immer unglücklicher, weil viele Leute, mit denen ich befreundet war, gestorben oder weggezogen sind. Ich habe nicht massenhaft Freunde, da machen ein paar schon viel aus. Plötzlich war ich zwar nicht ganz allein, aber ohne Leute, mit denen ich beruflich etwas anfangen konnte. Zurück nach Italien in mein altes Bauernhaus wollte ich nicht. Ich wollte dahin, wo etwas los ist. So bin ich nach Berlin gekommen.

Haben Sie hier noch Freunde von früher?

Ich habe die Kontakte nicht gepflegt. Und ich will auch gar nicht viele gute Freunde in Berlin haben. Die stehlen mir nur die Zeit. Ich will hier einfach nur meine Sachen machen, kreieren. Ich bewundere die Leute, die abends noch lange ausgehen können. Ich stehe morgens um vier auf. Von fünf bis elf, das sind meine besten Arbeitsstunden.

Und wann gehen Sie schlafen?

Früh. So um elf.

Hilfe, da bleiben nur fünf Stunden!

Dafür halte ich Mittagsschlaf – eine halbe Stunde. Es ist very exciting hier in Berlin, das hält einen wach.

Als Sie 1953 nach Deutschland kamen, waren Sie vor allem von den vielen Grautönen begeistert, die Sie aus Amerika nicht kannten. Gibt es diese Farben noch, hier in Berlin-Mitte?

Wenn ich das Haus verlasse, gibt es vor allem Gelb – und Krach: Fünf Straßenbahnlinien rattern hier vorbei. Hinten im Hof gibt es noch ein kleines Fleckchen mit verrostetem Metall und grauen Pflastersteinen. Gleich daneben ist alles neu und weiß und blitzeblank. Berlin glänzt.

Weiter im Osten könnte es die vielen Graus vielleicht noch geben.

Ich war noch nicht da und ich gehe auch nicht danach suchen. Ich suche nicht nach der Trauer – und hätte auch Angst vor Neonazis.

Gerade startet eine große Retrospektive mit Ihren Fotos aus Ihrer berühmtesten Zeit, den Jahren bei der Zeitschrift Twen . Als Kontrast zeigen Sie in Ihrem Atelier neue, unbekannte Arbeiten, vor allem Gemälde.

Nein, nicht aus Kontrast – aus lauter Verzweiflung! (lacht) Weil ich anders nicht ans Publikum komme. Ich fasse meine Arbeit als Autobiografie auf, bis heute. Ob ich nun fotografiere, male, Skulpturen mache oder Bücher gestalte. Mein Buch „I, Will McBride“ geht nur bis 1975. Aber danach habe ich noch 25 Jahre gearbeitet. Es muss doch möglich sein, auch diese Arbeiten an den Mann zu bringen.

Was haben Sie all die Jahre getan?

Mitte der Siebzigerjahre ging ich nach Italien und fing an, als Bildhauer zu arbeiten, zu modellieren, Körper abzuformen. Das lief auch eine Zeitlang ganz gut, bis der ganze Markt Anfang der Achtzigerjahre völlig zusammenbrach. Die Produktionskosten waren so gestiegen, dass sich kein Mensch mehr die Endpreise leisten konnte. So fing ich wieder an zu malen.

Und für die Gemälde fand sich ein neuer Markt?

Nee. Null. Nix. Ich habe auch gar nicht richtig versucht, die zu verkaufen.

Und wovon haben Sie gelebt?

Davon, dass ich Fotos verkauft habe. Irgendwann begannen auch die Museen, Fotografen meiner Generation auszustellen. Es war sehr angenehm zu wissen, dass von den Fotos etwas bleibt. Zwischendurch bekam ich auch Aufträge für Fotoreportagen, und im Sommer leitete ich Workshops bei den „Rencontres Internationales de la Photographie“ in Arles. Ich mache fast jedes Jahr ein neues Buch, aber noch heute lebe ich hauptsächlich vom Verkauf meiner Fotos – bis jemand auf die Idee kommt und laut sagt, dass ich gut malen kann.

Als Maler sind Sie also noch weitgehend unentdeckt?

Im Frankfurter Kunstverein war eine große Ausstellung geplant mit Fotos, Skulpturen und Gemälden von mir, aber das zerschlug sich, als der damalige Leiter Peter Weiermair nach Salzburg ging. Und mit seinem Nachfolger hatte ich keine Lust.

Seit einiger Zeit zieht sich ein Thema durch Ihre Arbeit, das früher zum akademischen Kanon gehörte: der Jünglingsakt. Heutzutage provoziert dieses Genre eine gewisse Klammigkeit.

Der Gesellschaft geht es gegen den Strich, dass auch Kinder eine Sexualität haben, eine sexuelle Wahrnehmung. Das Thema wird nicht behandelt. Nur zum Beispiel: All die Jahre, seit es nun schon Aids gibt, habe ich nie einen steifen Penis in einer Zeitung oder Zeitschrift gesehen. Das ist doch ein Witz! Was ist das für eine Aufklärung?

Das ist die Angst vor Pornografie.

Ein schwachsinniger Begriff. Pornografie, habe ich gelesen, heißt wörtlich „Erzählungen von Nutten“. Für mich gibt es gute und schlechte Bilder. Es gibt mieses und akzeptables Handeln. Und es gibt Arten von Sexualität, die mit Gewalt zu tun haben, die bis zur Perversion gehen. Darüber muss man aufklären und keine neuen Tabus errichten.

Ihre Akte und Halbakte wirken vor allem sehr friedvoll.

Ja, das ist die eine Seite. Ich will aber auch zeigen, wie die Jugend von der Gesellschaft verheizt wird. Seit Jahren schon arbeite ich an meinem Antikriegsdenkmal. Die Grundthese meiner Arbeit ist, dass die verdrängte Sexualität bei älteren männlichen Teenagern, das Nichtbejahen ihrer Sexualität, sie aggressiv stimmt. Das ist nicht nur in unserer Kultur so. Die Idee stammt natürlich nicht von mir, sondern wurde von Sigmund Freud entwickelt, Wilhelm Reich und den ganzen nachfolgenden Denkern.

Solche Ansätze stoßen heute auf wenig Gegenliebe. Vor vier Jahren lief sogar ein Verbotsantrag gegen Ihr Aufklärungsbuch „Zeig mal“. Wie waren die Reaktionen, als das Buch 1974 erschien?

Gut, super, positiv. Außer bei der katholischen Kirche. Aber das Buch wurde in einem evangelischen Verlag herausgegeben. Ich staune heute noch, dass man zehn Jahre für eine Arbeit bejubelt wird, und dann wird man plötzlich als jemand hingestellt, der Pädophile ermuntert und zu Kindesmissbrauch anregt. Das Buch war für Kinder gemacht worden – für den Moment im Leben von Eltern, wenn Kinder fragen, woher sie kommen. Helga Fleischhauer-Hardt, eine Schweizer Kinderpsychotherapeutin, kam mit der Idee, ein solches Buch zu machen, und ich habe nach ihren Plänen fotografiert. Keine Ahnung, warum nur ich auseinandergenommen wurde und nicht der Verleger oder die Kindertherapeutin.

Wie würden Sie heute ein solches Aufklärungsbuch gestalten?

Ich würde das Thema Missbrauch mit aufnehmen. Aber ich mache so ein Buch nicht mehr. Mich hat sogar jemand aus Amerika angerufen und wollte die Geschichte des Buches verfilmen. Nein danke, ich habe genug Skandal gehabt.

In einem Interview haben Sie 1966 Konrad Adenauer gefragt: „Was ist für Sie Jugend – wo hört sie auf, wo fängt sie an?“ Wie sehen Sie es selbst?

Und was hat Adenauer geantwortet? (überlegt) Der ist der Frage auch ausgewichen! Ich bestaune junge Leute wegen ihrer Neugier. Ich finde es immer traurig, wenn die Jungens Rollen einnehmen, die ihnen die Gesellschaft zuschiebt – egal, was das ist –, und dass sie an eigenem persönlichen Stoff verlieren und sich der Gesellschaft anpassen. Aber was ist denn jung? Jung ist jemand, der sich das Jugendliche bewahrt. Ich habe neulich bei der Feier von Helmut Newtons Geburtstag gestaunt, wie der mit Eberhard Diepgen herumgejuxt hat. Wie ein Fünfzehnjähriger! Der ist immerhin achtzig geworden. Das finde ich gut.

Bei Ihren Aufnahmen von Jugendszenen fällt vor allem die Nähe zwischen Ihnen und den Fotografierten auf. Wie haben Sie das gemacht?

Ganz einfach, das waren Freunde von mir. Ich habe die fotografiert, und die fanden es gut, fotografiert zu werden. Ich kenne einen jungen Fotografen aus Ostberlin, Julian Roeder, der macht heute in Farbe genau das, was ich früher in Schwarzweiß gemacht habe. Der fotografiert seinen Freundeskreis. Die machen unheimlich viel Putz, geben Partys, gehen in den Wald, sind gesund und haben gesunde Ansichten. Der hat für seine Fotos schon einige Preise bekommen – und vollkommen zu Recht. Der ist ganze neunzehn Jahre alt. Ich habe die ersten Arbeiten von ihm gesehen, als er siebzehn war, und ich war hingerissen. Das Geheimnis guter Fotos ist meiner Ansicht nach, dass man ganz eng mit dem Sujet verbunden ist.

Einige Fotografen haben heute mit einer ähnlichen Arbeitsweise großen Erfolg. Wolfgang Tilmans zum Beispiel.

Oh, Tilmans ist bewunderswert – wie der sofort mit seinen Fotos in die Museen ging. Der arbeitet ganz ähnlich, der hat sehr aussagekräftige Typen als Freunde, die erstaunliche Sachen machen.

Kommen junge Fotografen und konsultieren Sie als einen Vorläufer?

O nein. Ich bin doch ein Verräter. Die können mit mir nichts anfangen, weil ich Bilder male. Oder meine Bronzeplastiken – das ist für die unmöglich. Die fragen mich immer: Warum machst du das? Du machst gute Fotos, warum malst du Bilder?

Und warum malen Sie Bilder?

Die Fotografie, wie ich sie betrieben habe und noch immer betreibe, ist ein Auffressen von Gegebenheiten. Die Malerei ist . . . der umgekehrte Weg. (lacht ein wenig) Der eine Vorgang geht von außen nach innen, und der andere von innen nach außen. Das sind grundverschiedene Dinge. Deshalb mache ich beides. Wenn ich gemalt habe, kann ich wieder rausgehen und sehe gleich doppelt und dreifach so viele Bilder. Oder ich erkenne, dass es keine Bilder gibt für mich.

Hat sich Ihre Haltung zur Fotografie über die Jahre verändert?

Ich habe festgestellt, dass die Liebe, die ich sehr stark empfunden habe, wenn ich fotografiere, zu den Menschen und zu dem, was sie tun, durch die Jahre verloren ging. Vielleicht weil ich allmählich empfinde, dass es nichts bringt. Ich denke, meine Liebe ist in die Bilder geflossen, nicht in die Menschen.

Neben der Arbeit blieb zu wenig Raum fürs Leben?

Ich lebe hier wie ein Mönch, wie ein Eremit. Mitten in Berlin-Mitte, mit dem ganzen Krach drumrum und den ganzen Bars. An manchen Tagen begegne ich niemandem. Es gibt Tage, da rede ich mit niemandem und sage nicht einmal „Guten Tag“.

Ihr Atelier mit all den Porträts wirkt wie ein freundliches Refugium, wie ein Schutzraum gegen die Außenwelt.

Normalerweise hängen hier nicht ganz so viele Bilder von mir. Das ist nur jetzt so wegen der Ausstellung. Aber ich fühle mich sehr wohl mit meinen Bildern.

Sind Ihre Bilder idealistisch?

Kann man so sagen, doch. Vieles beim Malen ist Forschung: Knochen, Muskeln, was sie tun und wie etwas aussieht. Die meisten meiner Bilder sind von Fotos abgemalt.

Dann ist die Malerei also der doppelte Vorgang: von außen nach innen und wieder retour.

Ja, eine Verarbeitung.

Im Vergleich zu den Fotos wirken die Gemälde statischer, inszenierter.

Zurzeit mache ich wenig inszenierte Fotos. Die Leute, die ich kenne, wollen nicht inszeniert werden, die wollen nicht teilnehmen an meiner Inszenierung. Erst neulich habe ich einen jungen Bekannten eingeladen, um ihn zu porträtieren. Ja, sagte er, er käme gerne vorbei, aber Fotos wollte er gar nicht machen. Dann haben wir doch Fotos gemacht, die sind aber alle nicht gut geworden. Später kam er vorbei, um sich die Resultate anzusehen. Da habe ich noch ein paar Aufnahmen gemacht – only four shots. Und eine davon ist so klasse geworden! Dreimal habe ich ihn angerufen, ich habe ein super Porträt von dir gemacht. Der hat nicht mal zurückgerufen. Jetzt habe ich wieder ein Kunstwerk und keinen Menschen dazu. Und so ist es immer wieder und immer wieder und immer wieder.

Sie sind also doch auf der Suche nach Freundschaften in Berlin!

Neulich habe ich mit einem Freund darüber gesprochen, und der hat gesagt: Was würdest du mit einem Freund machen? Du hättest überhaupt keine Zeit und keine Geduld und kein Mitgefühl und nix mit dem. Was jammerst du hier rum? Sei doch froh, dass du alleine bist. (lacht)

Anders als auf Ihren Bildern ist die Jugend ja eigentlich alles andere als eine friedvolle Zeit.

Ja, aber meine Leute sind friedlich. Das ist die Botschaft.

War Ihre Jugend auch so friedlich?

Das war eine ganz normale unfriedliche Jugend. Ich hatte jahrelang ganz furchtbare Pickel im Gesicht und hatte keine richtigen Freunde. Ich hatte Angstzustände und flüchtete mich früh auf die Bühne und in die Kunst. Ich ging schon mit zehn Jahren ins Art Institute of Chicago, um zeichnen zu lernen.

Haben Sie deshalb etwas verpasst?

Ach, umgekehrt! Durch die Kunst und die Fotografie habe ich Sachen kennen gelernt, die hätte ich normalerweise nie erlebt. Und als Fotograf kam mir das Kunststudium sehr zugute.

Die Galerie „Camera Work“ (Kantstraße 149, Berlin-Charlottenburg) zeigt bis zum 6. Dezember eine McBride-Retrospektive (Di bis Fr 11 – 18, Sa 11 – 16 Uhr). Vom 17. bis zum 26. November steht McBrides Atelier (Neue Schönhauser Straße 10, Berlin-Mitte) für Besucher offenREINHARD KRAUSE, 39, ist Redakteur im taz.mag