Multipel, aber glücklich

Keine andere Leserschaft hat ihrer Zeitung mehr zugesetzt als Sie, liebe LeserInnen. Was blieb der taz also anderes übrig, als eine mehrfach gespaltene Persönlichkeit zu entwickeln?

von BARBARA HÄUSLER

Die Persönlichkeit einer Zeitung oder Zeitschrift resultiert aus dem Verhältnis zwischen ihren Machern und der Leserschaft. Das muss man sich als ein mehr oder weniger unterhaltsames, ständiges Wechselspiel von gegenseitigen Ansprüchen, Erwartungen und Zuschreibungen vorstellen. Im Fachjargon heißt das „Leser-Blatt-Bindung“ und meint so viel wie: Jede Zeitung hat die Leser, die sie verdient.

Was stimmt. Wer z. B. wie die gute alte Tante Zeit jahrzehntelang gedeckten Apfelkuchen backt, muss sich nicht wundern, dass die Großnichten und -neffen überfordert sind, wenn man ihnen plötzlich mit Muffins kommt. Auch wer seinen Lesern den Schlachtruf „Fakten, Fakten, Fakten“ einbläut, darf nicht jammern, dass er nun für immerdar dieselben kleinen Törtchen backen muss. Und Leute mit Köpfen, in denen es so klug zugeht, dass sie hinter der Zeitung versteckt werden müssen, stehen offenbar auf Frakturbrezeln.

Natürlich hat auch die taz die Leser, die sie verdient. Doch gleichzeitig gilt für sie auch der Umkehrschluss: Die taz-Leserschaft – also Sie – hat seit jeher die Zeitung, die sie verdient.

Schließlich hat keine andere Leserschaft ihrer Zeitung mehr zugesetzt als Sie. Keine hat die Leser-Blatt-Bindung so zu ihrer Sache gemacht, keine hat ein affektiveres und fordernderes Verhältnis zu ihrer Zeitung, keine ihr Mitspracherecht so hartnäckig eingeklagt – und keine hat damit so viel Erfolg gehabt wie die taz-Leserschaft.

Jawohl, Erfolg. Vom ersten Tag an überzog sie „ihre“ Zeitung mit wütenden Leserbriefen, erpresserischen Abokündigungsdrohungen und Redaktionsbesetzungen. Die taz – ihrem Selbstverständnis nach zunächst Bewegungs-, später Autorenzeitung – versuchte kollektiverprobt und auf Toleranzbetrieb geschaltet, die entfesselten Leidenschaften zu bändigen, die verschiedenen Standpunkte zu berücksichtigen und auf die äußerst heterogenen Anforderungen ihres überdies zunehmend heterogener werdenden Publikums einzugehen. Und darüber ist sie, die taz, versteht sich, recht bald und recht gründlich verrückt geworden.

Was blieb ihr auch anderes übrig bei Lesern, die stets je zur Hälfte entschieden dafür oder dagegen sind: die Berichterstattung zu einem bestimmten Thema im Allgemeinen, die Berichterstattung zu einem bestimmten Thema im Besonderen, das Layout, die heutige Schlagzeile, die gestrige Schlagzeile, die Leibesübungen, das große taz-I, Anzeigen, Anthroposophie-Beilagen, Wiglaf Droste, Marienerscheinungen, primäre und sekundäre Geschlechtsteile, Fleisch, Autos, Sauerkraut – sowie die meisten anderen Dingwörter im Duden.

Jede andere Zeitung wäre ob dieser Zumutung in Katatonie verfallen oder manisch-depressiv geworden. Die taz wählte eine elegantere Lösung: Sie wurde multipel. Denn nur als eine entwickelte multiple Zeitungspersönlichkeit konnte sie es schaffen, sich selbst und ihre Leser 21 Jahre lang bei der Stange zu halten. Und so begann die für die journalistische Unabhängigkeit zuständige Hauptpersönlichkeit, zahlreiche ausgeprägte Nebenpersönlichkeiten zuzulassen und zu dirigieren. Diese Nebenpersönlichkeiten in Form von Autoren, Haltungen und Meinungen spiegeln zum einen die Heterogenität der Leserschaft exakt wider – und bieten ihr fallweise Möglichkeit und Anlass zu vollendeter Identifikation oder Tobsuchtsanfällen. Andererseits garantiert dieses Spektrum der Zeitung ihren Spannungsreichtum, nach innen und nach außen. Nur in der taz finden sie in dieser Mischung gleichberechtigt zusammen: Spötter und Mahner, Hedonisten und Verweigerer, Modernisierer und Pragmatiker, Querdenker und Analytiker. Tag für Tag erstreiten sie ein Blatt, das ist wie sie und ihre Leser: sanft und unerbittlich, bockig und cool, distanziert und persönlich. Das ist anstrengend, branchenvergleichsweise aber ziemlich wahrhaftig. Und macht irgendwie glücklich.

Die taz ist also das tägliche Produkt des Versuchs einer Integration dieser Splitter. In der psychiatrischen Wirklichkeit ist diese Integration eine existenzielle Notwendigkeit. Der taz ist sie nie vollständig gelungen – glücklicherweise. Und genau darin liegt ihre Stärke – und ihr Nutzen für die multiple taz-Leserschaft, die sich aus der Zeitung schon längst zielsicher genau das herauspickt, was ihr liegt und gefällt.

Die taz ist wie Sie: zuverlässig unberechenbar. Stehen Sie dazu. Und wenn Ihnen das nicht passt, dann schreiben Sie doch einen Leserbrief.