Protest fürs Fernsehen

Der „Aufstand der Anständigen“ kam von oben. Zeichnet sich eine neue Protestkultur ab? Nein. Staatliche Mobilisierung hat eine lange Tradition – auch in der Bundesrepublik

Eine witzige Pointe: Die heute Regierenden haben sich einst selbst an staatsfernen Protesten beteiligt

Was eine Demo ist, was Protest ist, das meinen die meisten genau zu wissen – jedenfalls keine Veranstaltung, auf der sich Bundespräsident und Bischof, Kanzler und Oppositionspolitiker, Filmsternchen und TV-Prominenz, inmitten von Volksmassen, ein Stelldichein geben. So viel Gemeinschaft war nie! Und ein jüngst erschienenes Fachlexikon scheint diese Auffassung zu bestätigen: Es definiert „Protest“ als „elementare, gewaltfreie Form öffentlich vorgetragener Kritik, meist von einer Minderheit artikultiert. Diese greift i. Allg. ein vernachlässigtes gesellschaftliches oder politisches Thema auf, dem sie öffentliche Resonanz verschaffen will, um die Öffentlichkeit auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aufmerksam zu machen und auf diese Weise zu dessen Beseitigung beizutragen. Protestierende Minderheiten verstehen sich dabei als soziale Alternative oder als politische Avantgarde . . .“ (Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart). Diese Definition, über die sich im Detail streiten ließe – etwa über „Gewaltlosigkeit“ –, entspricht der gängigen Verbindung von Protest und staatsferner gesellschaftlicher Minderheit. Aus dieser Perspektive muss ein „Aufstand der Anständigen“, bei dem der Bundeskanzler in der ersten Reihe marschiert, als reichlich schräg erscheinen.

Es liegt nahe, eine neue Qualität anzunehmen, eine Veränderung, der zufolge früher Minderheiten gegen staatliche Maßnahmen protestierten, zuerst unter Gefahr für Leib und Leben, dann vom Grundgesetz (Artikel 8) geschützt, während Demonstrationen heute von der politischen Klasse tendenziell enteignet würden.

Eine solche Sicht speist sich aus Erfahrungen und offenbart zugleich ein kurzes historisches Gedächtnis. Nach Massenprotesten gleichwohl minoritärer politischer und „sozialer“ Bewegungen wie der Studentenbewegung (den Begriff „Studierende“ gab es 1968 noch nicht), der Anti-AKW- und der Friedensbewegung folgte in den 90ern eine als vergleichsweise demonstrationsarm wahrgenommene Phase.

Vor diesem Hintergrund erscheint dann der staatlich angeleitete „Aufstand der Anständigen“ als ein völlig neuartiges Phänomen. Ein etwas weiter zurückreichender Blick auf die deutsche Geschichte mindestens der letzten hundert Jahre hingegen zeigt die Inszenierung massenhaften Protests „von oben“ als immer wiederkehrendes populistisches Mittel, Legitimität für politisches Handeln zu organisieren, etwa durch antienglische und antifranzösische Demonstrationen bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Kundgebungen gegen den Vertrag von Versailles danach und im NS-Regime gegen den Völkerbund. Die staatliche Domestizierung des Ersten Mai, einstmals „Kampftag der Arbeiterklasse“, stellt ebenfalls viel Anschauungsmaterial bereit. Aber auch an staatlich organisierte Proteste gegen die rechtsextremen Mörder von Rathenau und Erzberger Anfang der 20er-Jahre ist zu erinnern.

Die Tradition einer politischen Mobilisierung „von oben“ setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg – unter völlig veränderten Rahmenbedingungen und Vorzeichen – fort. 1958 etwa beteiligte sich der hamburgische Senat, an der Spitze der Bürgermeister Max Brauer, am Protest gegen die Bonner Pläne zur Atombewaffnung – über hunderttausend Menschen marschierten mit.

Ein ganz anderes Beispiel der Volksmobilisierung gegen eine politische Minderheit fand zehn Jahre später in Berlin statt: Als Antwort auf eine APO-Demonstration gegen die US-Vietnamkriegspolitik rief der Senat zur Kundgebung auf. Hunderttausende beteiligten sich, und auf ihren Transparenten las man Parolen wie „Lasst Bauarbeiter ruhig schaffen / Kein Geld für lang behaarte Affen“. Einige der staatstragenden Demonstranten waren durchaus aktiv, etwa beim Verprügeln von intellektuell aussehenden jüngeren Menschen am Rande der Kundgebung.

Man könnte also geradezu eine Geschichte des von oben initiierten und inszenierten Protests schreiben, die die Geschichte des Protests als „soziale Bewegung“ ergänzen würde. Die Bundesrepublik als föderative Ordnung kennt, wie vermerkt, entsprechende Initiativen der Länder – und seit den 70er-Jahren kamen Protestinitiativen von kommunalen Körperschaften vermehrt hinzu, etwa gegen Gebietsreformen oder Infrastrukturplanungen.

Dabei zeigen die leicht ergänzbaren historischen Beispiele, dass nicht nur nach den Formen, sondern auch nach den Inhalten zu fragen wäre. „Kerzen in die Fenster“ und Lichterketten gab es, etwa organisiert vom offiziösen „Kuratorium Unteilbares Deutschland“, bereits im Kalten Krieg gegen das „Ulbricht-Regime“ in der „Zone“; sie tauchten in der Agonie der DDR und bei kirchlich inspirierten Aktionen für den Frieden und gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Anfang der 90er-Jahre wieder auf. Man wird wohl nicht sagen können, dass sie den Beteiligten das Gleiche bedeuteten.

Lichterketten wurden schon vom offiziösen „Kuratorium Unteilbares Deutschland“ organisiert

Als witzige Pointe mag allenfalls auffallen, dass die heute Regierenden einschlägige Erfahrungen bei anti- oder staatsfernen Protesten sammeln konnten: Bundeskanzler Schröder im Juso-Look seinerzeit bei Anti-AKW-Demos, Joschka Fischer in Frankfurter WG-Küchen beim Schwadronieren über den „revolutionären Kampf“. Vielleicht liegt die Neigung, ältere populistische Formen mit avantgardistischem Gestus aufzugreifen, aufgrund solcher politischen Generationserfahrungen heute näher als noch vor einigen Jahren.

Wichtig scheint mir der Kontext einer mittlerweile revolutionierten Öffentlichkeit. In der Fernseh- und Erlebnisgesellschaft haben visuell vermittelte Symbole einen ungleich größeren Stellenwert erhalten als zuvor – ein kultureller Umbruch, der sich seit den 60er-Jahren vollzieht. Hieraus ergibt sich eine Ambivalenz: Auf der einen Seite erhöht sich die Notwendigkeit symbolischer Handlungen, die visuell vermittelt werden. Auf der anderen Seite kann man zu Recht die Nachhaltigkeit ihrer Wirkung bezweifeln und befürchten, dass sie potenziell den Ersatz von historisch-politischer Aufklärung durch die Präsentation bewusstlos guter, „anständiger“ Gesinnung bedeuten (ein Adjektiv übrigens, das in der jüngsten Geschichte bekanntlich nicht selten missbraucht wurde). Auch die primäre Motivation mancher Beteiligter, Deutschland aus wirtschaftlichen Gründen im Ausland wieder attraktiver erscheinen zu lassen, wirft viele Fragen auf. Es gibt also Gründe für die Skepsis gegenüber „von oben“ initiierten und mitgetragenen Symbolhandlungen gegen rechten Extremismus, bei denen sich staatliches und gesellschaftliches Handeln tendenziell vermischen.

Aber gibt es eine Alternative in unserer massenmedial geprägten Öffentlichkeit? War es, angesichts neonazistischer Gewalttaten, nicht stets eine Forderung, dass der Staat einzugreifen habe? Muss es nicht als historischer Fortschritt angesehen werden, dass die politische Klasse sich zu einer solchen Symbolpolitik bemüßigt fühlt, bei der immerhin Ansprüche erhoben werden, an die bald wieder erinnert werden kann? AXEL SCHILDT