Schüsse an Straßenblockaden

In der indonesischen Provinz Aceh erschießt das Militär über zwanzig Menschen, um Unabhängigkeitsbefürworter von einer Großdemonstration abzuhalten

BANGKOK taz ■ Wie wenig Indonesiens Armee auf Präsident Abdurrahman Wahid hört, zeigt sich derzeit wieder in der nach Unabhängigkeit strebenden Provinz Aceh: Mit Schüssen und Straßenblockaden versuchen Soldaten und Polizisten seit Tagen, Proteste von Befürwortern der Unabhängigkeit zu verhindern. Über zwanzig Menschen kamen bereits ums Leben, über Hundert wurden verletzt. Zehntausende versuchen, aus allen Teilen der Provinz zum Demonstrieren in die Hauptstadt Banda Aceh zu gelangen. Wahid forderte die Armee auf, keine Gewalt gegen die Teilnehmer der für heute geplanten Großkundgebung anzuwenden – vergeblich. Wütend klagte der Regierungschef deshalb gestern nach dem Freitagsgebet in Ostjava, einige Soldaten würden die Befehle missachten und „Chaos schaffen.“

Lokale Bürgergruppen wollen heute an die größte Kundgebung Acehs vor einem Jahr erinnern. Hunderttausende hatten damals ein Referendum über die Zukunft der Provinz am westlichen Ende der Insel Sumatra gefordert. Amnesty International und andere Organisationen warnten seit Tagen vor einer „Tragödie“ und forderten die Sicherheitskräfte zur Zurückhaltung auf. Aus Angst vor einem Blutbad forderten Mitglieder des „Informationszentrums für ein Referendum in Aceh“ (Sira) die Bewohner abgelegener Ortschaften gestern auf, sich nicht auf den gefährlichen Weg in die Hauptstadt zu machen.

In der rohstoffreichen Provinz kämpft die Bewegung Freies Aceh seit Jahrzehnten für die Unabhängigkeit. Die Regierung hat der Bevölkerung mehr Autonomie und einen größeren Anteil an den Einnahmen aus den Erdgasfeldern zugesagt, lehnt eine Unabhängigkeit jedoch ab. Im Juni hatten Regierung und Vertreter lokaler Organisationen eine „humanitäre Pause“ vereinbart, eine Art Waffenstillstand. Stattdessen wuchs die Gewalt. Mehrere hundert Menschen sind dieses Jahr bereits ermordet worden. Viele wurden von Militärs und Polizei erschossen. Ein bekannter Menschenrechtler wurde im Sommer gefoltert und hingerichtet aufgefunden, ein regierungskritischer Universitätsrektor von Unbekannten niedergeschossen. Auf der anderen Seite wurden zahlreiche Polizisten, Soldaten und vermeintliche „Informanten“ Opfer von Überfällen der Bewegung Freies Aceh oder anderer Gruppen.

Die meisten der 4,5 Millionen Acehnesen wünschen nichts so sehr wie ein Ende der Gewalt. Die Regierung hat für nächste Woche neue Friedensverhandlungen mit den Separatisten angekündigt. Doch das Misstrauen gegenüber Jakarta ist groß: Über fünftausend Menschen wurden seit Ende der Achtzigerjahre in Aceh vom Militär ermordet, entführt oder gefoltert. JUTTA LIETSCH