Zwischen zerstörten Welten

Doppelbegabung in Wort und Bild, Ost und West: Das Museum Nicolaihaus zeigt eine Retrospektive des vor drei Jahren verstorbenen Künstlers und Dichters Roger Loewig

„Ich hasse den feigen idealismus, der die augen wegwendet von den traurigkeiten des lebens und den schwächen der seele.“ Diese Worte Romain Rollands standen auf der Einladungskarte von Roger Loewigs erster Einzelausstellung 1965 in der Erfurter Ateliergemeinschaft. Wie der große französische Pazifist war auch der deutsche Künstler ein ständiger Mahner. Einer, der nicht vergessen wollte, was von Deutschland im 20. Jahrhundert an Leid und Verbrechen ausgegangen war. Loewig, 1930 im schlesischen Striegau (heute Strzegom, Polen) geboren, durchlitt Nazi-Diktatur, Krieg und Flucht, war Land- und Forstarbeiter, bevor er in Ost-Berlin den Beruf des Lehrers ergriff. Als Künstler war er Autodidakt. Die gequälte Kreatur wurde zum zentralen Thema seiner Gemälde und Zeichnungen, Gedichte und Prosatexte – eine Doppelbegabung in Bild und Wort.

Seine Bilder der Verzweiflung brachten Loewig auch mit dem autoritären Regime der DDR in Konflikt, vor allem nach dem Mauerbau, auf den er ganz direkt reagierte. Eine private Schau in einem Pfarrhaus führte zu Verhaftung und Verurteilung wegen „staatsgefährdender Hetze und Propaganda in schwerwiegendem Falle“. Als Lehrer entlassen, folgten schwierige Jahre als freischaffender Künstler. 1972 reiste Loewig mit Hilfe der Bundesregierung nach West-Berlin aus. Vom Domizil im Märkischen Viertel konnte er über die Mauer in seine alte Heimat zurückblicken. Er fühlte sich im Niemandsland. Als Malerpoet in der gleichnamigen Gruppe (Grass, Mühlenhaupt, Schnurre u. a.) eher unterschätzt, erlangte er ein wenig Anerkennung, aber kaum den Durchbruch. Zu seinem 70. Geburtstag, drei Jahre nach seinem Tod und zehn Jahre nach der Wiedervereinigung, veranstalten das Stadtmuseum, die 1998 gegründete Roger Loewig Gesellschaft und die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eine umfassende Retrospektive.

Während der eher klagende als anklagende Impetus sein gesamtes Werk durchzieht, verändert sich im Laufe der Zeit dessen ästhetische Umsetzung. Am Anfang stehen zum Teil großformatige Gouachen und Ölgemälde in kräftigen aufwühlenden Farben: „Ecce Homo“, „Der Blinde“, „Nächtliches Stadtranddrama“, „Verwüstete“. Van Gogh, Munch und der deutsche Expressionismus standen Pate bei diesen Darstellungen einer zerstörten, leeren Welt mit umherirrenden Überlebenden oder versehrten Opfern.

Auch die in Tusche mit der Rohrfeder gezeichneten „Bilder aus meinem Leben“ und „Bilder aus deutscher Geschichte und Gegenwart“ weisen heftige, wilde Strichlagen auf, von denen etwas Gehetztes, Verzweifeltes ausgeht. In der Reihe „Schandmale“ von 1962–1964 erscheinen die grausamen Beschwörungen von Unterdrückung, Leid und Tod mehr und mehr in kaltem Licht und festen Formen auf surrealer, landschaftlich kahler Bühne. Es folgen „Totengesichter“ aus einer Leichenhalle, dazu das mit feiner Feder zu Papier gebrachte „Große Panorama“ einer versteinerten visionären Trümmerlandschaft.

Ab den Siebzigerjahren tritt das Unheimliche zurück, es bleiben weite Landschaften und Vogelschwärme, Melancholie und gläubige Hoffnung. Und es bleibt „Die Narbe“ – ein Mauer-Rest im Feld. MICHAEL NUNGESSER

Museum Nicolaihaus, Stiftung Stadtmuseum Berlin, Brüderstraße 13, bis zum 28. 1. 01. Di–So 10–18 Uhr; Katalog 25 DM (Buchhandel 38 DM)