Gott ist fern

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Eine Heerschar von Anwälten lauert darauf, sich am kulturellen Schatz der Demo-kratie zu bereichern

„The punched-out portion of a punch-style voting ballot.“ CNN über die technischen Aspekte dessen, was in den USA zur Zeit schief läuft.

Was das amerikanische chad bedeutet, konnte mir mein alter Langenscheidt nicht verraten; folglich suchte ich Auskunft in der Online-Ausgabe von CNN und fand ein hilfreiches Glossar jener Begriffe, die zur Zeit in Palm Beach durch die Lüfte schwirren und von dort aus die Gemüter der ganzen Nation in Ratlosigkeit gestürzt haben. Ein chad ist also jenes Papierschnipselchen, das durch Lochung aus den Wahlscheinen gestanzt wird, und weil dies etlichen Wählern nur halb gelang, müssen jetzt demokratische und republikanische Wahlhelfer mit der Lupe untersuchen, ob die Wahlzettel nur eine Vertiefung (dimple) zeigen oder aber pregnant sind. Pregnant, also „schwanger“, nennen die geplagten Wahlergebnis-Geburtshelfer solche chads, die eine Einkerbung aufweisen, aber eben nicht ganz perforiert sind. Florida ist bekanntlich ein sonniges Land.

Einmal musste es ja so weit kommen: Der mächtigste Staat der Erde, der dem Rest der Welt seit gut zweihundert Jahren die Gesetze der Demokratie eintrichtert und mit jeder neuen Präsidentenwahl dem globalen Publikum Ästhetik und Struktur des Showdowns vor Augen und Ohren führt, ist über sein eigenes Ritual gestolpert – und noch ist nicht zu sagen, was für die Vereinigten Staaten, für die Demokratie und für uns alle dabei herauskommen wird. „Election impasse“ oder „political deadlock“ titeln die amerikanischen Medien, zu Deutsch: absoluter Stillstand, Sackgasse, Ausweglosigkeit.

Nach den bisherigen Zählungen haben 49.222.339 Amerikaner Al Gore gewählt – nur 48.999.459 votierten für Bush. Diesen Vorsprung wird Bush nicht aufholen, selbst wenn er dank des „Electoral Vote“-Systems mit einer Differenz von wenigen hundert schwangeren Schnipseln Florida und damit die Präsidentschaft gewinnen sollte. Etliche Amerikaner beginnen erst jetzt, angesichts des eingetretenen Debakels, zu begreifen, dass sie nicht den Präsidenten, sondern mehr oder weniger anonyme Wahlmänner wählen – und welche Folgen dieses traditionsschwere, aber ziemlich verrückte System haben kann. Verständlicherweise werden sie allmählich nervös, und nicht wenige artikulieren ihre Nervosität auf der Straße. Merkwürdig ist nur, dass sie nicht für eine Reform ihres Wahlrechts demonstrieren, sondern dafür, die beiden Kandidaten sollten fünfe gerade sein lassen und nicht mehr ihre Stimmen zählen, vielmehr ganz ohne Zuhilfenahme der Mathematik zu einer sportlichen Entscheidung kommen.

Viele europäische Kommentatoren, die vom Wahlkampf noch ein leidenschaftliches Gladiatorengemälde entworfen hatten, klagen jetzt von den Kontrahenten staatsmännische Weisheit und Bescheidenheit ein. Von beiden wohlgemerkt, so dass, wenn beide, Gore und Bush, sich den Appellen fügen und verzichten würden, die Vereinigten Staaten nicht nur ohne Kandidaten, sondern am 20. Januar auch ganz ohne Präsidenten wären. Die gut gemeinten Ratschläge aus Europa lassen außer Acht, dass dem amerikanischen Hahnenkampf, zumindest im mathematischen Sinn, ein glasklares, wenn auch ungerechtes demokratisches Modell zu Grunde liegt. Es gehorcht, wie die europäischen Wahlsysteme auch, dem Gesetz der Zahl. Mehrheiten entscheiden – auch eine Mehrheit von wenigen hundert Stimmen im Staate Florida.

In entwickelten demokratischen Gesellschaften mit moderner Verwaltungstechnik lassen sich auch hauchdünne Mehrheiten exakt feststellen; sie sind überprüfbar und halten in der Regel dem Verlangen nach Anfechtung ohne weiteres stand. In Palm Beach jedoch kam man auf die Idee, so hirnrissige Wahlformulare auszustellen, dass nicht nur manche Wähler sich fragten, wie sie ihr Votum platzieren sollten, sondern auch die Stimmenzähler nicht wissen, wie sie die Ergebnisse zu deuten haben.

Das Volk hat gesprochen und will nun endlich erfahren, was es gesagt hat; die Peepshow mit den chads ist schließlich nicht abendfüllend. Aber eben dieses Volk hat sich bisher mit einem Wahlrecht arrangiert, das zumindest nicht ausschließt, dass im Extremfall Richter darüber entscheiden müssen, wie sein Votum zu verstehen sei. Die weithin einzige Supermacht der Welt hat ihre Ratlosigkeit, ihre Entscheidungsschwäche entdeckt und will dieses seltsame Gefühl offenbar bis zur Neige auskosten. Am Ende der Clinton-Ära gehen, wieder einmal, masochistische Aufwallungen durch die Nation. Sie werden die beiden Kandidaten eher darin bestärken, das Mobbingsystem, in das sie hineingetrieben wurden, aus der politischen Arena in die der gerichtlichen Auseinandersetzung zu verlängern – schon darum, weil sie von Heerscharen von Anwälten umgeben sind, die nur darauf lauern, sich am kulturellen Schatz des amerikanischen Demokratiespiels zu bereichern.

Die einzige Supermacht der Welt entdeckt ihre Ratlosigkeit und will dies seltsame Gefühl auskosten

Selbst wenn am Freitag ein Ergebnis verkündet werden sollte – nach allem, was geschah, erforderte es vom Verlierer, hieße er nun Bush oder Gore, eine übermenschliche staatsmännische Contenance, sich in die Niederlage zu fügen. Gore hätte allen Anlass, sich um den Sieg betrogen zu fühlen, schon weil er die numerische Mehrheit auf seiner Seite weiß – und Bush müsste argwöhnen, von provinziellen Nachbesserern übers Ohr gehauen worden zu sein. Die Lage drängt geradezu – nun, da das Volk sich offenbar zu undeutlich geäußert hat – nach einem Gottesurteil. Aber Gott ist fern, so inbrünstig ihn gerade die Amerikaner anrufen mögen; er hat „his own country“ längst den Rücken gekehrt und das Terrain den Medien, den Wahlmanagern, den Sponsoren und den Anwälten überlassen. Und auch die staatsmännische Weitsicht, die Europas Kommentatoren nostalgisch einem Nixon und mittlerweile gar dem noch amtierenden Präsidenten zuschreiben, verflüchtigt sich zusehends auf einer Bühne, auf der nicht politische Konzepte, sondern Maskenbildner und Konfettikanonen über den Ausgang einer Wahl entscheiden.

„Einer muss der Verlierer sein“, titelte am Samstag die Frankfurter Rundschau. So sind die Spielregeln, die schon auf dem Kinderspielplatz eingeübt werden und im privaten wie im öffentlichen Leben nach perfekt ausdifferenzierten Dramaturgien die winner von den loosern trennen. Selbst krudes Mobbing hat Vorschriften zu beachten. Sie sind die Errungenschaften einer Zivilisation, die in ihrem Innersten nicht verhehlen kann, dass sie die Barbarei keineswegs gebändigt hat und daher Rituale benötigt, um die schlimmsten Auswüchse des struggle for life in Schach zu halten und mit Hilfe von Regularien zu übertünchen. Das Problem ist nur: Um den Verlierer unter das Gesetz zu beugen, müssen die Regelsysteme funktionieren. Die Demokratie ist eine Maschine, die nicht nur geübter Maschinisten, sondern auch eines sinnvollen Bauplans bedarf. Die amerikanische Maschinerie erweist sich, nach einer erstaunlichen Laufzeit von über 200 Jahren, zumindest als defizitär. Das Resultat ist, dass nun die Amerikaner (und wir mit ihnen) nicht nur in die Röhre, sondern in einen wenig anheimelnden Abgrund starren.