Das amerikanische Königsdrama

Eigentlich geht es bloß um Erbsenzählerei an den Urnen. Was macht die Nachwahl-Seifenoper so spannend? Ihr mythologischer Gehalt und die Tatsache, dass die Hauptdarsteller reich, schön und vor allem mächtig sind

WASHINGTON taz ■ Es dauert nicht mehr lange, da werden die Ersten behaupten, sie bekämen Schreikrämpfe, wenn sie noch einmal das Wort Palm Beach lesen müssten – so, wie viele vor einem Jahr behaupteten, den Namen des kubanischen Flüchtlingsjungen Elián nicht mehr hören zu können oder, vor zwei Jahren, den Monica Lewinskys oder Paula Jones’. Und doch wird die Welt weiter gebannt am Fernsehschirm sitzen und das Schauspiel verfolgen wie einst den Prozess gegen O. J. Simpson und das Impeachmentdrama um Bill Clinton. Wie schaffen die Amerikaner das nur, dass sie aus kleinlichen Händeln großes Staatstheater machen?

Worum es in Florida geht, ist im Grunde pedantische Erbsenzählerei. Bush führt mit 300 Stimmen Vorsprung, was bei 6 Millionen abgegebenen Stimmen im Fehlerbereich der Auszählung liegt. Die eine Seite will einen Vorsprung mit Briefwahlergebnissen, die andere mit Nachzählung aus dem Fehlerbereich holen. Und um diese Kleinigkeit wird kleinlich gerungen. Großes Drama ergibt das, weil damit mythologische Dimensionen berührt sind.

Amerikas Realseifenopern sind der Stoff, aus dem Mythen gesponnen werden: O. J. Simpson war der moderne Othello, Monica Lewinsky die moderne Version von Bethseba, die im Alten Testament König David verführte, Elián Gonzales der moderne Moses im angespülten Binsenkorb. Al Gore und George W. Bush aber sind vergleichbar den antiken Diadochen, die sich um die Nachfolge Alexanders des Großen streiten. Bei all seinen Makeln entspricht Bill Clintons Weltreich dem des römischen zu Zeiten des Kaisers Trajan. Nie hat Amerika mit sich und der Welt in derart tiefem Frieden gelebt, nie waren Amerikas Macht und Reichtum größer. Seit Kennedy hat kein Präsident so gut ausgesehen und war keiner so populär wie Bill Clinton. Obwohl alle gleichaltrig sind, wirken Gore und Bush wie die Söhne Clintons, die sich um das Erbe des scheidenden Königs streiten.

Das ist jedoch nur ein Aspekt des Dramas. Überlagert wird es von einem anderen, vom Kampf um die Wiederherstellung der Legitimität von Herrschaft und um die Vertreibung des „bastards“ aus dem Weißen Haus. Clinton mag gewählt und wiedergewählt worden sein, seiner Herrschaft haftet der Makel der Illegitimität an, denn auch eine demokratische Gesellschaft ist nicht frei von den mythischen Vorstellungen, die sich mit Herrschaft verbinden. Clinton kam, anders als die meisten amerikanischen Präsidenten, aus armen Verhältnissen. Armut allein freilich ist noch kein Makel, auch Lincoln kam aus armen, und Truman aus Verhältnissen, die man „einfach“ nennt – Clinton aber kam „aus der Gosse“, er ist ein uneheliches Kind und damit ein Bastard auf dem Thron Amerikas; sein Stiefvater war ein Säufer. Er ist, was man im amerikanischen Süden po’ white trash nennt, weißer Abschaum, der gesellschaftlich unter den Schwarzen steht. Der Bastard entwand 1992 dem Patrizier Bush, Sohn eines bedeutenden Senators, das Zepter, und der Sohn der Patrizierfamilie George W. Bush ist angetreten, das Weiße Haus wiederzuerobern. Auch Gore stammt aus einer Patrizierfamilie und beansprucht die Erbfolge. Alle diese Leute tragen, wie in royalistischen Kreisen üblich, die gleichen Namen, George W. Bush ist eigentlich George III., und Al ist eigentlich Al II. Überhaupt ist der Kampf um die US-Präsidentschaft zu einem Familiendrama geworden, und sollte Gore verlieren und im Jahre 2004 nicht mehr antreten wollen – wer würde es ihm verdenken? –, dürfte Hillary I. in die Schlacht reiten. Machtkampf als Familienfehde und Erbfolgekrieg.

All das würde nicht funktionieren, wären die Akteure nicht so telegen. Das Simpson-Drama war schön anzuschauen, weil es um schöne Menschen ging – O. J. und Nicole –, der feingliedrige Knabe Elián rührte an Beschützerinstinkte, und wenn Clinton, Gore und Bush nicht alles ziemlich gut aussehende Männer wären, hätte das Drama bald viel von seiner Spannung verloren. Dass Bush dabei manchmal wie der Falstaff des Unternehmens und Gore wie der Präzeptor wirkt, dass der eine wie der Hofnarr und der andere wie der Klassenprimus wirkt, verleiht dem ganzen Drama einen Schuss unterhaltsame Burleske.

Amerikas Unterhaltungsbedürfnis wäre am besten mit einer Doppelherrschaft der beiden gegensätzlichen und verfeindeten Brüder gedient. Da das schlecht möglich ist, wollen die Amerikaner und die Welt sich noch eine Weile an ihrem Kampf um die Herrschaft erfreuen.

PETER TAUTFEST