„Nehmt ein Beil, ein Brecheisen ... KÄMPFT!“

Das von dem Wissenschaftler Emanuel Ringelblum im Warschauer Ghetto angelegte Untergrundarchiv „Oneg Schabbat“ ist erstmals öffentlich zu sehen

von HEIDE PLATEN

Papier, 18 x 21 cm, eine Bleistiftzeichnung, ein Museumsstück, eine Alltagsskizze im Stil der Karikaturisten der 30er-Jahre. Rozenfeld hieß der Künstler, Vorname unbekannt. Das Bild zeigt eine Kinderleiche, nackt auf der Straße, den Kopf bedeckt, daneben den Bestattungsunternehmer, der die Passanten um die Kosten für das Begräbnis anbettelt. Eine Alltagsskizze? Das Exponat mit der Katalognummer AZIH I/227 entstand im Warschauer Ghetto und ist kein Kunstwerk, sondern Geschichte. Der Künstler Rozenbaum, Vorname unbekannt, hat sie erlebt, den alltäglichen Hungertod mit dem Stift festgehalten, den Alltag in der Milagasse im Warschauer Ghetto, in dem eine halbe Million Menschen litten, hungerten, starben.

Seine Skizze ist ebenso ein Teil des „Oneg Schabbat“, des Untergrundarchivs des Warschauer Ghettos geworden wie Kinderbriefe, Bonbonpapier, Lebensmittelkarten, der Stundenplan einer Schulklasse, Formulare und Augenzeugenberichte. Jeder Fetzen Papier wurde genutzt. Die handgeschriebenen Briefe und Notizen sind löchrig, stockfleckig, vergilbt.

Das Archiv ist seit dem 28. September in Frankfurt am Main zum ersten Mal öffentlich ausgestellt. Unter Historikern ist es als das Ringelblum-Archiv bekannt, benannt nach seinem Gründer, dem Wissenschaftler und Geschichtslehrer Emanuel Ringelblum (1900 – 1944), der die Sammlung zusammen mit seiner Frau Judyta anlegte. 1927 hatte er als Historiker an der Universität Warschau promoviert. Im Auftrag des American Jewish Joint Distribution Committee dokumentierte er 1939 die Hilfsmaßnahmen für 17.000 aus Deutschland ausgewiesene Juden polnischer Staatsangehörigkeit. Nach der deutschen Besetzung Polens arbeitete er für die soziale Selbsthilfe im Warschauer Ghetto, organisierte Suppenküchen und gründete die Gesellschaft zur Förderung der jüdischen Kultur. Er archivierte, die Vernichtung bereits früh vor Augen, seit 1939, um Zeugnis abzulegen, um das Sterben als Chronist für die Nachwelt festzuhalten. Er trug Zeichnungen, Fotografien, Literatur, religiöse Texte, Bruchstücke der jüdischen Kultur in Polen in ihrem Untergang zusammen.

Am 22. November 1940 konstituierte sich das Archiv in Ringelblums Wohnung im eingeschlossenen Warschauer Ghetto als Forschungsinstitut und Untergrundorganisation unter dem Decknamen „Oneg Schabbat“, „Freude an den Samstagstreffen“. Mehrere dutzend Mitarbeiter, Künstler, Ingenieure, Schriftsteller sammelten unter Lebensgefahr Beweisstücke, Dokumente der Deportationen, des Massenmordes in den Arbeitslagern, Bekanntmachungen der deutschen Besatzungsbehörden, Augenzeugenberichte, Zeugenaussagen, aber auch die Arbeit der Sozialen Selbsthilfe der jüdischen Organisationen, Vorbereitungen und Aktionen der Widerstandsgruppen und Untergrundpresse. Die Existenz vieler der Beteiligten ist heute nur noch durch ihre Mitarbeit am Archiv belegt. Die meisten wurden ermordet, einige wählten den Freitod.

Zum Teil war das archivierte Material ein Hilferuf nach außen, zur Information der westlichen Alliierten und der Weltöffentlichkeit über die Gräueltaten im von den Deutschen besetzten Polen bestimmt. Es wurde mit Kurieren über Untergrundkanäle nach London geschmuggelt. Die Zeitdokumente wurden aber auch in der Hoffnung, dass sie überdauern mögen, für die Archäologen der Zukunft verwahrt, eingemauert und vergraben. In Blechmilchkannen und Metallkästen wurden sie nach dem Beginn der großen Massendeportationen an drei Stellen versteckt, die letzten im April 1943, kurz vor Beginn des Ghettoaufstandes. Die ersten wurden 1946 unter der Steinwüste der Trümmer des Ghettos von einem der drei überlebenden Mitarbeiter Ringelblums wiedergefunden, der zweite Teil 1950 bei Bauarbeiten zufällig entdeckt. Der dritte, kleinste Teil ist bis heute verschollen.

Die Sammlung war von Anfang an interdisziplinär und nach modernen wissenschaftlichen Kriterien konzipiert und angelegt. Differenziert bediente sie sich verschiedenster Quellen und belegte das jüdische Leben in der Schoah umfassend. 1999 ist sie von der Unesco in ihr Verzeichnis „Memory of the World“ aufgenommen worden. Das Jüdische Historische Institut in Warschau konnte bisher mit Hilfe aus den USA zwei Drittel des Bestandes auswerten und konservieren. Direktor Feliks Tych schreibt im Vorwort zum Ausstellungskatalog: „Und alles erwies sich als wichtig. Keine sterbende jüdische Gemeinschaft hat gleichermaßen bewegende Spuren hinterlassen – weder in den Jahren der planmäßigen Vernichtung der europäischen Judenheit noch jemals zuvor.“

Die erste gesicherte Nachricht über Massenvernichtungen brachte „Szlamek“ nach Warschau. Er war von den Nazis Anfang 1942 zur Arbeit als Totengräber in der mobilen Gaswagenstation Chelmno bei Lodz gezwungen worden und konnte fliehen. Oneg Schabbat zeichnete seinen Bericht auf: „Von dem aufgetürmten Stapel zieht ein Deutscher eine Leiche in eine Richtung und ein anderer in die andere. Der Hals der Frauen wird beschaut, ob da nicht goldene Ketten sind, und wenn welche da sind, werden sie sogleich abgerissen. Die Ringe werden von den Fingern gezogen. Goldzähne werden mit Zangen aus den Mündern gerissen. Dann wird die Leiche aufgestellt und die Hand in den After gesteckt. Mit den Frauenleichen wird das Gleiche auch vorne gemacht.“

Szlamek, dessen Identität nicht mehr zweifelsfrei zu ermitteln ist, wurde wieder gefangen, deportiert und ermordet. Auf seiner Flucht hatte er schon anderen jüdischen Gemeinden Bericht erstattet: „Als sich die Nachricht in der Stadt verbreitete, kamen viele Juden zum Rabbiner, und ich erzählte ihnen in allen Einzelheiten über die entsetzlichen Vorkommnisse. Alle weinten. Ich aß Brot mit Butter und trank Tee dazu und sprach für meine Errettung ein Dankgebet.“

Der Essayist Lejb Goldin, 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet, schrieb eine Selbstbeobachtung über den Hunger im Warschauer Ghetto: „Warum nehmen sich die Menschen eigentlich heute nicht das Leben? Die Qualen des Hungers sind doch schließlich viel schrecklicher, mörderischer und würgender als alle diese Krankheiten. Siehst du, alle diese Krankheiten sind schließlich menschlich, so manche vermenschlicht sogar den Kranken und adelt ihn. Der Hunger ist dagegen etwas Animalisches, Wildes, Primitives – ja, er ist eigentlich eine animalische Angelegenheit. Denn wenn du hungerst, bist du kein Mensch mehr, dann wirst du zum Tier. Und die Tiere wissen nicht, was das ist: Selbstmord.“

In der Frankfurter Ausstellung ist nur eine kleine, konzentrierte Auswahl, ein Bruchteil der 30.000 Blätter des Archivs, zu sehen. Sie zeugen nicht nur von Hunger und Not, sondern auch von der wissenschaftlichen Betrachtungsweise des Elends. Die Literaturkritikerin Cecylia Stapakowa erstellte Arbeitsthesen zur Untersuchung „Die jüdische Frau in Warschau“, für die Befragungen von Frauen aus der jüdischen Bohème, von Hausangestellten, Hausmeisterinnen ebenso vorgesehen waren wie die von Untergrundkämpferinnen und Frauen aus Wilna und Stomin, die dort 1941 „dem Tod entkommen“ waren. Von Stapakowa, die 1942 in Treblinka ermordet wurde, ist kein Foto überliefert. Nechemia Tytelman erforschte die Ghetto-Folklore. Kein Foto.

Gänzlich unbekannt ist der Verfasser einer Chronik, die die Verbrechen der Deutschen an den jüdischen Bevölkerung in Polen von 1938 bis 1941 auflistet. Eines der zeitlich letzten Dokumente im Archivteil II ist ein Aufruf der Jüdischen Kampforganisation (ZOB), die den Deutschen ab Januar 1943 bis zum Untergang Widerstand leistete: „Wehrt Euch! Nehmt ein Beil, ein Brecheisen, ein Messer ... KÄMPFT!“ Ringelblum wird versteckt, kehrt im April 1943 ins Ghetto zurück, wird verhaftet, im Juli wieder befreit.

Er notiert Ende 1943: „Die Generation der Erwachsenen, die bereits die Hälfte ihres Lebens hinter sich hatte, sprach, dachte, sorgte und grämte sich einzig, wie sie den Krieg heil überstehen könne, träumte vom Leben. Die Jugend indes – das heißt jener beste, schönste und edelste Teil des jüdischen Volkes – sprach und dachte nur an einen würdigen Tod.“

Ringelblum wurde am 7. März 1944 in einem Versteck auf dem zerstörten Ghettogelände entdeckt und zusammen mit seiner Familie, seinen Gefährten und polnischen Helfern in den Ruinen erschossen. Das Ringelblum-Archiv gilt als die bedeutendste und umfassendste Einzelquelle der Geschichte der Juden in Polen während des Zweiten Weltkrieges.

Die Ausstellung ist noch bis zum 21. Januar 2001 zu sehen in der Börnegalerie im Frankfurter Museum Judengasse, Kurt-Schumacher-Str. 10, Frankfurt am Main