Vier Kinder, Haus und Boot

Die Träume der Jugend? Sicher nicht der glorreiche Widerstand von einst

„Wir respektieren die Alten, sie haben gehungert und harte Zeiten erlebt – aber wir denken heute einfach anders.“

aus Hanoi und Ho-Chi-Minh-StadtJUTTA LIETSCH

„Sie haben zuerst gedacht, ich sei verrückt“, erzählt Tran Viet Duc und lacht, „aber dann haben sie mich verstanden.“ „Sie“, das sind die sieben Studentinnen, die Duc kürzlich als Statistinnen für sein bislang aufregendstes Projekt anheuerte: eine Live-Performance über die „sterbende Seele der vietnamesischen Kultur“.

Hauptdarsteller der Veranstaltung, die in einem versteckt gelegenen Privathaus eines Künstlers am Rand von Hanoi stattfindet, ist der dreiunddreißigjährige Duc selbst. Vor über hundert meist jungen Zuschauern, die per Flüsterpropaganda hierher gefunden haben, singt und tanzt er im Kreis von sieben lebensgroßen Geisterpuppen: „Wir wollen die Gefahr beschwören, dass unser Innerstes vom Streben nach Konsum aufgefressen wird.“

Schon liegt er wie im Opiumrausch auf dem Boden, wälzt sich in einem Berg von Papiergeld. Am Ende gehen die Papierfiguren – nach dem Vorbild des traditionellen Totenrituals – in Flammen auf, „um der Kultur ihre Geisterseelen zurückzugeben“. Übrig bleibt ein Haufen falscher Dollarnoten, der daran erinnert, dass die amerikanische Währung in Vietnam längst beliebter als der einheimische Dong ist.

Mit Regimekritik, versichert Duc, der hauptberuflich als freier Fotograf für vietnamesische und ausländische Agenturen arbeitet, „ hat meine Performance nichts zu tun“. Abseits der eintönigen Propagandaformeln und der immer wiederkehrenden Beschwörungen von der Einheit zwischen Partei und Volk hat sich zum Anfang des neuen Jahrtausends eine ganz andere Realität entwickelt: In Vietnam kümmern sich, ähnlich wie beim mächtigen Nachbarn China, nur noch wenige junge Leute um Politik. Manche sorgen sich, wie Duc, um die seelenlose Gegenwart. Den meisten geht es mehr um das eigene Glück, um eine Nische für das eigene Fortkommen, und nicht selten um das schiere Überleben.

Wenn jetzt mit Bill Clinton zum ersten Mal nach dem Ende des Vietnamkrieges 1975 ein amerikanischer Präsident ihr Land besucht und damit endlich einen Schlussstrich unter die blutige Vergangenheit ziehen will, ist das für den größten Teil der jungen Generation nur ein offizielles Spektakel wie jedes andere – kurz hinschauen und dann schnell vergessen.

Der Grund: Mehr als die Hälfte aller 79 Millionen Bewohner des Landes wurden nach dem Sieg des kommunistischen Nordens über das von den USA gestützte Südvietnam geboren, und viele haben es satt, an die alten Zeiten erinnert zu werden. Bis zur Benommenheit haben ihnen Lehrer, Eltern, Funktionäre und Zeitungskommentatoren von Kindheit an die Geschichten der opfer- und ruhmreichen Siege gegen die übermächtigen Feinde eingehämmert.

Inzwischen, sagt ein Student in Hanoi, „hören wir gar nicht mehr hin“. Fotograf Duc stimmt zu: „Wir respektieren die Alten, sie haben gehungert und harte Zeiten erlebt – aber wir denken heute einfach anders.“

Auch das Eingeständnis des ehemaligen US-Verteidigungsministers Robert McNamara, das im Kriegsmuseum von Ho-Chi-Min-Stadt, dem einstigen Saigon, an einer Wand hängt, regt vietnamesische Jugendliche kaum noch auf. „Wir haben einen schrecklichen Fehler gemacht, wir schulden der zukünftigen Generation eine Erklärung über die Beweggründe unseres Handelns“, hatte McNamara in seinen in den Neunzigerjahren erschienenen Erinnerungen zugegeben.

Als die Deutschdozentin Maria Kleespies ihre Studenten jüngst bat, ihre Zukunftsträume mit Fotos aus einer deutschen Zeitschrift zu illustrieren, war das Ergebnis eindeutig. Im Zentrum stand eine strahlende Familie mit vier Kindern, umrahmt von romantischem Haus, Reitpferd, Segelboot, Mercedes, Kampfhunden, Wald – und am Rand eine hübsche Blondine. Was die Studenten gar nicht merkten: Als Modell für ihre Traumfamilie diente ihnen das englische Premierministerpaar Blair, das der Öffentlichkeit sein neues Baby präsentierte.

Diese Studenten waren noch Kinder, als die Kommunistische Partei vor über zehn Jahren den Geist aus der Flasche gelassen hatte. Damals startete sie ihre „Doi Moi“, ihre Umgestaltungs-Politik, und ließ erstmals wieder private Betriebe und ausländische Investoren zu. In den neuen Zeiten des Umbruchs kämpfen die Jugendlichen nun um ihre Chance.

Im Leben des 23-jährigen Ngo Nhat Hoang herrscht deshalb vor allem eine Maxime: „Wenn ich hart arbeite, kann ich mir eine gute Zukunft schaffen“, sagte der schlaksige Student, der seine Sonnenbrille lässig aufs Haar geschoben hat, „und ich arbeite sehr hart – wie übrigens alle in meiner Generation.“

Hoang studiert in Hanoi Industriedesign, noch ein Jahr hat er bis zum Examen. Er ist begabt und findet sich im Leben zurecht. Ungehindert von ideologischen Scheuklappen kann er seine „Liebe zur Schönheit traditioneller vietnamesischer Skulpturen, Pagoden und Parks“ mit der Begeisterung für die aus Deutschland stammende Bauhaus-Kunstrichtung vereinbaren, und sich ebenso köstlich mit James-Bond-Filmen und Hollywood-Schinken wie „Titanic“ vergnügen.

Neben dem Studium arbeitet er in einer Werbeagentur und verdient 80 Dollar im Monat – zweieinhalb Mal so viel wie im Durchschnitt die vietnamesischen Arbeiter und Angestellten. Risiken scheut er nicht: Als er 500 Keramikbecher mit Valentinstag-Motiven dekorierte, wollte niemand die Tassen kaufen. Schließlich „habe ich mich vor die Universität gestellt und sie an hübsche Mädchen verschenkt“, berichtet er fröhlich.

Sein Plan: „Nach dem Examen will ich unbedingt für zwei Jahre zum Studium in die USA. Dann komme ich zurück und mache mich in Hanoi mit ein paar Freunden selbstständig“, sagt Hoang.

Pham Gia Thanh (26) hat es bereits geschafft. Er gehört zu der kleinen Elite der vietnamesischen Börsenmakler. Rund vierzig Aktienhändler gibt es, nachdem im Juli diesen Jahres in Ho-Chi-Minh-Stadt – die ihre Bewohner immer noch Saigon nennen – die erste Börse des Landes ihre Tore öffnete. Er hat derzeit nicht viel zu tun, da bislang erst vier vietnamesische Unternehmen an die Börse gegangen sind. Angesichts der Asienkrise, dramatischer Korruption und stockender Reformen sind die wirtschaftlichen Aussichten nicht gerade rosig.

Deshalb verdient Thanh nicht so viel wie einige seiner reichen Freunde, die Rechtsanwälte oder Banker wurden. Dennoch ist er optimistisch. Für ein Motorrad und mobiles Telefon, Computer und den teuren privaten Internetanschluss – Grundausstattung vietnamesischer Yuppies – reicht es allemal. Er wohnt noch – wie die meisten Jugendlichen vor der Hochzeit – zu Hause. Wenn Thanh wollte, könnte er sich auch den Besuch der populären Diskos von Saigon leisten und im „Spaceship“, „Metropolis“ oder „Orient“ mit Whiskey, Wein und willigen Damen einige Monatslöhne lassen.

Sein Problem: Seine Eltern bestehen darauf, ihm die passende Ehefrau auszuwählen. „Diese konfuzianische Einstellung“, seufzt er, „ist in Vietnam ungebrochen – egal, ob die Eltern alte Kommunisten oder Kapitalisten sind.“ Immerhin darf er sich, bis er heiratet, mit selbst ausgesuchten Freundinnen vergnügen.

Konfuzianische Traditionen hin, offizielle kommunistische Prüderie her – Vietnams Jugend hat inzwischen ein freieres Verhältnis zum Sex, und geht auch vor der Ehe häufig miteinander ins Bett. Zudem blüht allerorten – ähnlich wie in den Nachbarländern Kambodscha oder Thailand – die Prostitution.

Die Konsequenzen sind allerdings vor allem für die Vietnamesinnen alles andere als befreiend: Denn Verhütung bleibt tabuisiert. Aids breitet sich schnell aus. Und mit 900.000 Schwangerschaftsabbrüchen pro Jahr – darunter etwa 400.000 bei unverheirateten Frauen – ist Vietnam ein Land mit einer der höchsten Abtreibungsraten der Welt.

Makler Thanh, Fotograf Duc und Designer Hoang gehören heute zu jenen Gewinnern der Reformen, die durch Begabung, Glück oder auch Beziehungen ihren Weg machen – in Nordvietnam ebenso wie im Süden. Doch für die Mehrheit der jungen Vietnamesen sind die Aussichten trübe.

Eine Million Jugendlicher verlassen jedes Jahr die Schule. Vor allem in entlegenen Regionen des immer noch bitterarmen Landes, in dem das jährliche Durchschnittseinkommen um die 800 Mark liegt, finden bis zu 30 Prozent der Jugendlichen keine Arbeit. Gute Schulen sind teuer, begehrte Ausbildungsplätze rar.

Wachsende Kriminalität und eine dramatisch ansteigende Drogensucht gehören zu den Folgen. Um Dampf abzulassen, treffen sich die Cliquen zu waghalsigen Motorradrennen auf den Straßen Hanois und Saigons. Nicht wenige brechen sich dabei den Hals.

Obwohl es auf dem Land in den letzten Jahren immer wieder zu gewaltsamen Aufständen gegen korrupte Funktionäre kam, hat sich der Zorn der städtischen Jugend bislang noch nicht gezielt gegen die Obrigkeit in Hanoi gerichtet. Eine schlagkräftige organisierte Opposition existiert nicht, dafür ist die politische Kontrolle zu scharf. Zudem ist die Hoffnung immer noch zu groß, doch noch ein Stück vom Kuchen abzukommen.

Aber auch unter vielen erfolgreicheren Jugendlichen hat „ein Gefühl der Leere“ eingesetzt, sagt ein siebenundzwanzigjähriger Mitarbeiter der staatlichen Fluggesellschaft Vietnam Airlines: „Als ich vor fünf Jahren zu arbeiten begann, waren wir noch euphorisch, wir glaubten an die Reformen, wir dachten, wir könnten die Welt verändern.“ Aber jetzt sitze er oft mit seinen Freunden zusammen, die so ratlos wie er sind. „Es geht einfach alles zu langsam.“ Die meisten versuchten deshalb, ein Stipendium oder eine Arbeit im Ausland zu finden – „am liebsten in Amerika“. Er selbst fährt nun ab und zu aufs Land, um armen Bauernfamilien Geld zu spenden, das er bei seinen Freunden in der Stadt gesammelt hat: „Damit mein Leben einen Sinn bekommt.“