Der Armeewitwer

Adir Steiner ist etwas gelungen, was kaum jemandem denkbar erschien: Die israelische Armee musste ihn als Hinterbliebenen seines verstorbenen Lebensgefährten anerkennen

von CHRISTOPH SCHULT

Aus den Lautsprechern wummern die Bässe, hin und her zucken die Menschen in der Mittagssonne: junge Burschen in Latexhosen, Frauen mit Bauchnabelpiercing und gelgetränkten Haaren. „We are the Champions“, brüllen sie in den Himmel über Tel Aviv, und die Anwohner des Rabin-Platzes stehen auf den Balkons und staunen.

„Liebe Schwule, liebe Lesben“, ruft Bürgermeister Ron Huldai ins Mikrofon. „Ich habe versprochen, dass ich aus Tel Aviv eine offene Stadt machen würde.“ Und wie zum Beweis fordert er die schrille Menge auf: „Seht euch um!“ Sie jubeln und klatschen, feiern ihren Bürgermeister. Es ist die dritte Gay Pride Parade in Tel Aviv, aber die erste, auf der ein Stadtoberhaupt auftritt. Nur kurz genießt Ron Huldai den Applaus. Dann senkt er die Stimme und dankt dem Organisator des Festes, Adir Steiner.

Noch vor ein paar Jahren waren dem Bürgermeister ganz andere Sätze über die Lippen gekommen. „Küssende Männer finde ich ekelig“, hatte der ehemalige Kampfpilot in einem Interview gesagt und Schwule mit Kakerlaken verglichen. 1996 war das, mitten im Parlamentswahlkampf. Ein paar Tage später erhielt er einen Anruf von Adir Steiner. Was er gegen Schwule habe, fragte er Huldai. Der druckste herum: Das habe er so gar nicht gesagt, seine Aussage sei verdreht worden ... Da wusste Adir, „dass er nur ein großes Maul hat“. Sie trafen sich, Adir bot dem Politkandidaten Hilfe an, und Huldai lud ihn in sein Wahlkampfteam ein. Adirs Forderungen waren einfach und hart. Erstens: Unterstützung des israelischen Homosexuellenverbands. Zweitens: Beteiligung der Stadt Tel Aviv an den Paraden. Drittens: Gründung einer Einrichtung für schwule Jugendliche. Huldai nahm sie an, gewann die Wahl und machte Adir zu seinem Sprecher.

Klar sei die Parade ein Erfolg gewesen, sagt Adir Steiner ein paar Tage später beim Interview. Aber das nächste Mal könne sie ohne ihn stattfinden. „Das Baby“, sagt er, „hat laufen gelernt.“ Jetzt arbeitet er an einem neuen Projekt: In vier Jahren will er die World Pride Parade nach Tel Aviv holen. „Ich brauche nur zehn Millionen Dollar.“ Für die Sache kämpft er, persönlich gibt er sich bescheiden. Er sagt nicht, dass er stolz ist auf die Erfolge der „Homo’im“ und „Lesbiot“, wie es auf Hebräisch heißt. Oder stolz auf seinen ganz persönlichen Erfolg, den er nach dem Tod seines Lebensgefährten erstritt.

Doron Maisel war 39, als Adir ihn kennen lernte. Er arbeitete als Arzt in der Armee, Hauptmann von Rang. Adir war siebzehn, Schüler und wusste bereits, dass er schwul war. Doron hingegen hatte seine Homosexualität erst entdeckt, als er bereits verheiratet war und drei Töchter hatte. „Es hat sofort zwischen uns gefunkt“, erinnert sich Adir. Der Altersunterschied habe ihn nicht abgeschreckt. „Doron sah damals wundervoll aus“, sagt er, „höchstens wie dreißig. Und er mochte all die Dinge, die ich auch mochte: tanzen, surfen, in Klubs gehen.“

Adir zog zu ihm, machte Abitur und trat seinen Wehrdienst an. „Die Armee wusste, dass wir zusammen wohnen“, erzählt Adir. Nie gab es Probleme – bis Doron befördert werden sollte. General Jitzhak Mordechai, damals Chef des Kommandos „Süd“, wollte Doron zum medizinischen Commander seines Abschnitts machen. Er schlug ihn dem Generalstabschef Moshe Levy vor. Der bat um weitere Vorschläge.

„Das war ungewöhnlich. Normalerweise wird ein Kandidat akzeptiert, wenn ein General ihn vorschlägt“, sagt Adir. „Es sei denn, der Generalstabschef hat irgendeine Vorliebe für einen anderen Kandidaten. Er hatte keine, aber die Tatsache, dass Doron homosexuell war, hatte Levy dazu gebracht, die Beförderung zu torpedieren.“

Auch Jitzhak Rabin, der damalige Verteidigungsminister, war verunsichert. „Der kannte keine Homos“, erzählt Adir. Bis er Doron kennen lernte. Oft war der schwule Militärarzt bei den Rabins zu Hause. Adir blieb diesen Abenden fern, er habe die anderen Militärs nicht verunsichern wollen, sagt er. Rabin setzte sich gegen den Widerstand der Offiziere durch und unterschrieb Dorons Beförderung. „Die persönliche Beziehung hat dabei sehr geholfen“, sagt Adir. Doron wurde zum Oberst ernannt, Adir wurde Steward bei der israelischen Fluglinie El Al.

Eines Tages entdeckte Doron einen dunklen Fleck auf seiner linken Schulter. „Er hatte diesen Fleck schon länger, aber plötzlich war er rot und sah verdächtig aus“, erinnert sich Adir. Eine Biopsie brachte Entwarnung: nicht bösartig. Ein Jahr später kehrte das mulmige Gefühl zurück, und Doron ging wieder zum Arzt. Als er zurückkam, war er kreidebleich. „Ich habe Hautkrebs“, sagte er zu Adir. „Der Krebs hat sich bereits in meinem ganzen Körper ausgebreitet. Ich habe nur noch wenige Monate.“ Schnell verschlechterte sich Dorons Zustand. Er flog auf Armeekosten zur Behandlung in die USA, und Adir begleitete ihn, einmal, zweimal – vergeblich.

Am 28. Noember 1991 starb Adirs Lebensgefährte.

Doron hatte den Kampf verloren, aber für Adir sollte er erst beginnen. Anstoß gab die Klage eines schwulen Kollegen bei der Fluggesellschaft. Jener El-Al-Steward hatte vor Gericht erstritten, dass sein Freund dieselben Freiflüge erhält wie die Partner seiner heterosexuellen Kollegen. Adir beantragte bei der zuständigen Militärkommission die Anerkennung als „Armeewitwer“. Dadurch würde er zum Beispiel Anspruch auf Dorons Pension erhalten. Die Kommission lehnte ab.

Ein Jahr lang studierte Adir die israelischen Gesetze. Er fand heraus, dass die Partnerin eines verstorbenen Soldaten auch dann Anspruch auf eine Pension hat, wenn sie nicht mit ihm verheiratet war. Vorausgesetzt, der Soldat stirbt während des Armeedienstes. Ob im Krieg oder durch Krankheit, spielt keine Rolle. Unerheblich ist auch, ob der Verstorbene ein Mann oder eine Frau ist, denn in Israel dienen beide Geschlechter in der Armee.

Adir nahm sich einen Anwalt und verklagte die Armee und das Verteidigungsministerium. Selbst Adirs Anwalt war skeptisch. Schließlich hatte jener El-Al-Angestellte lediglich die Rechte erlangt, die ihm laut Arbeitsvertrag zustanden. Aber nirgendwo auf der Welt hatte je ein Gericht einem homosexuellen Partner sämtliche sozialen Leistungen zugesprochen. Und Israel war nicht gerade das Musterland homosexueller Rechte. Erst 1988 war ein Gesetz abgeschafft worden, das homosexuellen Sex mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestrafte. Immerhin, der Armee war es verboten worden, Wehrpflichtige bei ihrer Musterung über ihre sexuelle Orientierung auszufragen.

Laut israelischem Gesetz ist ein Hauptkriterium für die Anerkennung als Paar, dass die Beziehung öffentlich bekannt ist. Das war der Anknüpfungspunkt für Adirs Argumentation gegenüber dem Verteidigungsministerium. Adir und Doron hatten zusammen gewohnt, sie gingen zusammen auf Parties und hatten ein gemeinsames Bankkonto. „Wir haben unsere Beziehung nie versteckt.“ Manche Beweise lieferte die Armee unfreiwillig selbst. Als Doron befördert werden sollte, war Adir fünf Stunden von der Abteilung für Innere Sicherheit über seine Beziehung befragt worden. Die Armee hatte auch Adirs Ticket bezahlt, als er Doron zur Behandlung in die USA begleitete. Bis in die höchsten Ränge war das Paar bekannt. Kurz vor Dorons Tod kam sogar der damalige Generalstabschef Ehud Barak, heute Premierminister, zu Besuch ins Krankenhaus. „Sei stark“, sagte er zu Adir und drückte ihm die Hand. Und dann waren da noch die Querelen um Dorons Beförderung gewesen. Adir: „Ich zog in Erwägung, Premierminister Rabin als Zeugen zu laden.“ Doch dazu kam es nicht mehr: Im November 1995 wurde der Premier erschossen.

Adir bekam in erster Instanz Recht, die Armee ging in die Berufung und bekam Recht. Die Mutter fragte: „Warum nimmst du das auf dich? Das kann deine Karriere zerstören.“ Aber Adir war sich seiner Sache sicher: „Ich wusste, dass ich Recht hatte. Und weil ich kein Problem mit meiner Homosexualität hatte, war es für mich auch kein Problem, vor Gericht zu stehen.“ Die Reaktionen der Öffentlichkeit machten ihm Mut. Nach einem Auftritt in einer Talkshow sprachen ihn die Leute auf der Straße an. „Da habe ich begriffen, dass ich fünfzig Prozent meines Kampfes vor Gericht und fünfzig Prozent über die Medien führen musste.“ Fortan gab Steiner Interviews, ließ sich fotografieren und wurde in kurzer Zeit zur Kultfigur der israelischen Schwulenbewegung.

Derart gewappnet, klagte Adir vor dem Obersten Gerichtshof und erstritt einen Vergleich. Adir bekam die Pensionsansprüche, aber er wurde nicht offiziell als Witwer anerkannt. Kurz darauf, am Gedenktag für die gefallenen Soldaten 1998, klingelte eine Armeedelegation an Steiners Haustür und überreichte ihm ein Buch. So wie jede Armeewitwe an diesem Tag ein Geschenk bekommt. Adir: „Endlich. Endlich war ich jemand für die Armee.“

Adir bereitet schon das nächste Verfahren vor. Er will Steuervergünstigungen für schwule Paare durchsetzen. Rat holt er sich bei seinem Freund – der ist Anwalt. Den aufreibenden Sprecherposten bei der Stadt hat er inzwischen aufgegeben. Schließlich wollen die beiden jetzt ein Kind großziehen.

CHRISTOPH SCHULT, 28, ist „Spiegel-Online“-Redakteur und lebt in Hamburg