Fantastische Welten oder nettes Design?

Ein Marketingerfolg in Holland soll auch hier zu Lande die Fantasie beflügeln: der „Atlas der Erlebniswelten“. Doch er ist eher eine lahme Ente

Letztes Jahr in Holland war es der Renner. Eine Landkarte, die wie echt aussah, aber Fantasieregionen darstellte: Die Welt der Imagination, ausgebreitet auf einer flachen Karte. Die Städte dieser „Erlebniswelt“ tragen Namen wie „Wachstum“ oder „Wandel“, die Landstriche heißen „Sumpf der Langeweile“ oder „Berge von Arbeit“. Die Welt, die es zu entdecken gilt, jedenfalls wenn man den Pressemitteilungen folgt, ist die „faszinierendste aller Welten ... die Welt in unserem Kopf“.

Die Schädelforscher des – naturwissenschaftlich denkenden – 19. Jahrhunderts glaubten, nahezu jeder Quadratzentimeter Gehirn sei für eine andere Gefühlslage zuständig. Individualität unterm Stirnansatz, Hoffnung und Spiritualität in der Schädelmitte, Destruktivität oberhalb der Ohren, elterliche Liebe am Hinterkopf etc. Am Ende des – esoterisch denkenden – 20. Jahrhunderts ist diese Idee wieder aufgetaucht, nur dass die rigide Einteilung aufs Papier verlegt wird. Diesem Konzept zweier holländischer Grafikdesigner war in ihrer Heimat großer Erfolg beschieden. Der veranlasste sie dazu, aus der einen „Karte der Erlebniswelt“ einen ganzen Atlas zu machen, mit 18 Teilkarten zu Themen wie „Geheimnis“, „Tun und Lassen“, „Gedankenfluss“, „Entbehrung“. Unterlegt wurde das Ganze durch besinnliche Texte, verfasst von einem Philosophen und einer Schriftstellerin/Künstlerin. Ein Bestseller war geboren, der „Atlas der Erlebniswelten“ schaffte es unter die Top Ten.

Jetzt soll er seinen Siegeszug um die Welt antreten. In Frankreich erschien der Atlas im Frühjahr, in Deutschland, den USA und Großbritannien im September, von 22 Ländern insgesamt ist bisher die Rede. Aber was macht die „Erlebniswelt“ so faszinierend? Diese Frage beantwortet die zugehörige Website www.atlas-der-erlebniswelten.de: „Die Gestaltung und Komposition der Erlebniswelt fordert die Betrachter auf, den menschlichen Alltag aus einer anderen Perspektive und auf eine spielerische, kreative Art zu betrachten. Sie regt zu grenzüberschreitendem, anderem Denken an und ermöglicht, anregende neue Beziehungen zwischen Gefühlen, Erlebnissen und Gedanken zu entdecken ...“

Die Idee ist nett, aber die Begrifflichkeit erschöpft sich in Phrasen und Wortfeldern, wie sie einem Synonymlexikon entstammen könnten. Auf der Teilkarte „Tun und Lassen“ etwa heißen die Orte „Glaube“, „Herz“, „Mut“, „Vertrauen“, „Entschluss“ und so weiter, umringt von Gegenden namens „Unsicherheit“ und „Erwägungen“. Es gibt natürlich auch ein paar Highlights, ein Ort namens „Gekühltes Mütchen“ oder ein Vulkan, der sich „Heißer Brei“ nennt, umgeben von „Herumreden“.

Wirkliche Fantasiebeflügler sind Karten aus der Entdeckerzeit wie diejenige, die Mungo Park 1799 aus Westafrika zurückbrachte. Park, mittlerweile durch den Roman „Wassermusik“ von T.C. Boyle einem breiteren Publikum bekannt, fuhr um 1790 nach Afrika, um die Quelle des Niger zu erforschen. Er überlebte auch tatsächlich und fügte seinem abenteuerlichen Bericht eine Karte bei. Seine Route wurde vom Verlag der Erstausgabe in jedem Exemplar per Hand nachgezeichnet: rot für den Hinweg, blau für den Rückweg. Rechts und links der Route finden sich Flüsse, Wälder und angedeutete Berge – soweit Park eben sehen konnte – und dahinter das Wort „Kannibalen“. Sonst ist alles weiß. Dagegen kann ein Machwerk aus der Feder zweier Grafikdesigner nicht an.

Die alltagsphilosophischen Essays, die den Karten beigegeben sind, bewegen sich auf ähnlichem Niveau. Sie strotzen vor Weisheit, angereichert mit weichgespülter Lebenshilferhetorik. Etwa zum Kartenthema „Kälte“: „Wir alle tragen Splitter des Übels (d.h. der Kälte) in unserer Seele. Manchmal betrachten wir die Welt durch eine eisblau gefärbte Brille und können nicht mehr sehen und fühlen, was wir sehen und fühlen sollten.“

Fast verwunderlicherweise lassen die Autoren mancherorts Witz durchblitzen. Zum Kartenthema „Entbehrung“ gibt es eine wunderbare Reflexion über Sinn und Unsinn des freiwilligen Campens. Das ganze Unterfangen wirkt in erster Linie marketingstrategisch durchdacht, ein Versuch an den Erfolg der „Fünf Tibeter“ anzuknüpfen, weil wir alle in unserer logokratischen Welt Fantasie und Gefühl doch so bitter nötig haben. MARTIN HAGER

Jean Klare/Louise van Swaaij: Atlas der Erlebniswelten. Eichborn Verlag 2000, 96 Seiten, 21 farbige Karten, 39,80 DMFür Industriekunden gibt es ein besonderes Angebot: Gegen 5.000 bis 12.000 DM, je nach eigener Mitarbeit, können Sie sich eine eigens angefertigte Karte erstellen lassen, die beispielsweise Ihre Firmenstruktur oder -philosophie präsentiert. Nähere Infos beim Verlag unter Tel.: 0 69/ 25 60 03 52