Tanz unter der Zirkuskuppel Konstantinopels

Politikers Block und Wählers Verwirrung: Das totale Unentschieden bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen macht den Stillstand, der das Land seit Jahren lähmt, für alle offenbar. Die Politiker immobilisieren sich durch Aufbauschen marginaler Konflikte und Vertuschung tiefer Differenzen selbst

von PETER TAUTFEST

Mitte der 40er-Jahre glaubte ein junger Mathematiker namens Evier Rauque entdeckt zu haben, dass die Gesetze der Mathematik im Bereich astronomisch hoher Zahlen nicht gelten. Wenn 2 + 2 = 4 ist, dann machen 20 Millionen + 20 Millionen nur noch theoretisch, nicht aber in Wirklichkeit 40 Millionen. Auf diese Unstimmigkeit war er bei Massenberechnungen im Bereich von Geologie, Astronomie und Demographie gestoßen. Anfang der 60er-Jahre dann versammelte er einen Stab von Mathematikern, die errechnen wollten, ab welcher Größenordnung das Phänomen eintritt und wie es erklärt werden könnte. Eine umständliche Formel ward errechnet und riesige Zahlen in einen Computer gefüttert. Eine Nacht lang sollte der Computer rechnen, doch die Nacht endete für alle Beteiligten im Wahnsinn.

Diese fiktive Geschichte legte 1961 ein Student an der University of Texas in seinem Creative-Writing-Kurs vor. Der Dozent schüttelte den Kopf. In der Nacht vom 7. auf den 8. November dürfte sich der Autor an seine Geschichte erinnert haben. Auch diese lange Nacht brachte ein Land zum Wahnsinn und droht in einem nationalen Albtraum zu enden. Die Auszählung der abgegebenen Stimmen im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf lässt Mehrheiten offenbar weder von Hand noch mit Maschinen ermitteln.

Vor der Wahl schon sagte der demokratische Abgeordnete Barney Frank aus Massachusetts, „zur Zeit sind die Unterschiede zwischen den beiden Parteien derart groß, dass Kompromisse für uns keinen Sinn machen. Alles, was wir tun können, ist, den Wählern zu zeigen, wo wir stehen, und sie dann entscheiden lassen.“ Barney Frank dürfte nach der Wahl weiterhin so unwillig sein, Kompromisse einzugehen, zumal die beiden Häuser des Kongresses im Jahre 2001 ziemlich genau zur Hälfte der einen und der anderen Partei zufallen könnten.

Im Kongress und, mittelbar daraus resultierend, im ganzen Land geht schon lange nichts mehr. Die politische Klasse Amerikas immobilisiert sich selber. Sarah Binder, Politologin an der Washingtoner Georgetown Universität, hat im Herbst dieses Jahres versucht, eine präzise Formel für das zu entwickeln, was man gridlock, zu Deutsch: Selbstblockade oder Reformstau nennt.

Die Reformstau-Formel

Den legislativen Stau berechnet sie aus der Zahl der auf der Tagesordnung stehenden nationalen Anliegen, die sie nach den in der New York Times am häufigsten genannten Problemen bestimmt, und dem Prozentsatz der zu deren Lösung verabschiedeten Gesetze. Während die Zahl der nationalen Anliegen seit Ende der 40er-Jahre ständig gewachsen ist, beschreibt die Zahl der verabschiedeten Gesetze eine achterbahnartige Kurve, die Ende der 90er-Jahre einen Tiefpunkt erreicht. Die Gründe dafür sieht Sarah Binder im „Schwinden der Mitte“. Wenn man die politische Mitte von Abgeordneten an ihrem Abstimmungsverhalten misst, dann hat die Zahl kompromissbereiter Abgeordneter von 30 Prozent in den 60er- und 70er-Jahre dramatisch bis auf 10 Prozent Ende der 90er-Jahre abgenommen. Prominente Senatoren, die als „gemäßigt“ bekannt waren, Leute also wie Bill Bradley aus New Jersey und David Lyle Boren aus Oklahoma nahmen im Laufe der 90er-Jahre ihren Abschied mit der Begründung, dass sie im immer feindseligeren Klima des Senats keine Lust mehr hätten, politisch zu arbeiten.

Dass Amerika in einen Kulturkampf verstrickt ist, behauptete schon Anfang der 90er-Jahre der Soziologe James Hunter. In seinem damals Aufsehen erregenden Buch „Kulturkrieg – der Kampf um die Selbstfindung Amerikas“ meinte er, dass die USA einem Prozess der Libanonisierung erlägen, der in einen Bürgerkrieg übergehen könnte. Nach J. Hunter ist die klassische Form des Religionskriegs, in dem nach Tradition, Herkunft und Territorium geschiedene Konfessionen Krieg führen, dem Kampf zwischen „Orthodoxen“ und „Progressisten“ innerhalb der Konfessionen gewichen. Was ehemals der Krieg zwischen Protestanten, Juden und/oder Katholiken war, ist zum Krieg der „Traditionalisten“ gegen die „weltlichen Humanisten“ geworden. Hunter verfolgt diese Entwicklung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Sie begann mit der Auseinandersetzung um die Sklaverei, lebt weiter im Konflikt über die Rolle der Religion in Schule und öffentlichem Leben und findet zur Zeit ihre virulenteste Zuspitzung bei den Fragen Abtreibung und Homosexualität. 1991, bei Erscheinen des Buches, betrug die Zahl der in den drei vorausgegangenen Jahren festgenommenen Abtreibungsgegner 65.000, was mehr Festnahmen bedeutet, als während der Auseinandersetzungen um Bürgerrechte und den Vietnamkrieg vorgenommen wurden. Anfang der 90er-Jahre kam es dann auch zu ersten Attentaten und Mordanschlägen auf Frauenärzte, die Abtreibungen durchführten. Trotz größerer Toleranz der Homosexualität gegenüber nahmen in den 90er-Jahren die Morde an Schwulen und so genannte Hassverbrechen zu.

Die Präsidentschaftskandidaten und Kontrahenten im diesjährigen Wahlkampf haben sich alle Mühe gegeben, die Differenzen zwischen ihren Lagern herauszuarbeiten – als da sind die Unterschiede bei der Steuer- und Schulpolitik, bei der Reform der Renten und der Krankenversicherung sowie bei der Außen- und Sicherheitspolitik. Andere Unterschiede aber versuchte man ihrer Brisanz wegen eher einzuebnen. Vor allem jene, die Abtreibung und Religion betreffen. In wieder anderen Fragen waren sich die Kandidaten weitgehend einig, etwa bei Globalisierung und Todesstrafe. Absurderweise wären die Differenzen ausgerechnet da am leichtesten zu überbrücken, wo sie am deutlichsten artikuliert wurden: bei der Steuer- und Sozialversicherungspolitik sowie bei der Bildungspolitik, und am wenigsten da, wo über sie kaum geredet wurde: bei den religiösen Themen. Vordergründig wurde also um Sachfragen gerungen, doch dahinter tobte ein nicht offen ausgetragener Kampf um Ideologie und Weltanschauung.

Innenpolitik sei in Amerika so sinnlos wie „der Krieg zwischen den Blauen und Grünen im Zirkus von Konstantinopel“, schrieb 1954 der amerikanische Politologe D. W. Brogan. Diese Aussage ist so falsch und veraltet, wie sie richtig und aktuell ist. Falsch ist daran, dass es in Amerika aufgrund der Struktur seiner Parteien – keine Mitgliedschaft, keine weltanschauliche Ausrichtung – eigentlich keine politischen Auseinandersetzungen entlang parteipolitischen Linien gäbe. Tatsächlich ist das politische Terrain zwischen den Parteien aufgeteilt. Die meisten Wähler im angeblich so pragmatischen und unideologischen Amerika geben ihre Stimme nach Parteizugehörigkeit ab. Das ist schon immer so gewesen. Mag die Parteienlandschaft auch in ständigem Wandel begriffen sein – vor 50 Jahren war der Süden demokratisch, heute ist er republikanisch – was sich nicht wandelt, sind tief sitzende kulturelle Zugehörigkeiten und Loyalitäten.

Die Partei – das große Zelt

Richtig am Bild von den Blauen und Grünen ist aber die relative Beliebigkeit der Parteiidentifizierung. Die Republikaner sprechen gern von ihrer Partei als einem „großen Zelt“, was bedeutet, dass darin verschiedene Fraktionen Platz haben sollen: Abtreibungsgegner wie -befürworter. Die Partei als lockerer Zusammenschluss und Sammelbewegung, deren Parteigänger gleichwohl leidenschaftlich motiviert sind, erinnert an die Zusammenschlüsse von Streetgangs in Chicago und Los Angeles, wo sich die vielen kleinen lokalen Banden zu den Dachorganisationen der „Bloods“ und „Crips“ in LA zusammenschlossen. Bloods und Crips haben ihre Organisationen inzwischen auf das ganze Land ausgedehnt. Die Unterschiede zwischen den Positionen der Gangzusammenschlüsse sind nicht größer als die zwischen den „Blauen“ und „Grünen“ oder Republikanern und Demokraten, doch hassen und befehden sie sich bis auf den Tod. Verschiedene Waffenstillstandsabkommen sind bisher gescheitert.

Es ist kein Zufall, dass die Entscheidungsschlacht dieses Wahlkampfs in Florida ausgetragen wird. In diesem Staat treffen die Probleme des Nordostens mit denen des Südens und des Westens zusammen. Aus Brooklyn und New Jersey kommen die Pensionäre der Roosevelt-Ära und stoßen auf die Ruheständler aus dem Süden. Die Juden aus New York treffen im Ruhestand auf die Red Necks des Südens. Die Hightech-Industrie zieht Fachleute und die Unterhaltungsindustrie wie die schönen Strände Tourismus aus dem ganzen Land an. Florida ist darüber hinaus eines der großen Einfallstore der Immigration – längst sind die Kubaner gegenüber den Einwanderern aus Mittelamerika und der Karibik in die Minderheit geraten. Miami wird als das „Hongkong beider Amerikas“ bezeichnet. Wo sich Strömungen, Traditionen, Ethnien und Bevölkerungsteile derart inniglich durchdringen und das Territorium teilen müssen, findet der Kampf am heftigsten statt. Die politische Polarisierung wird weiter zu- und die Kompromissbereitschaft weiter abnehmen.