Steinbruch des Erinnerns

Bei allem Lob: Die „Jahrestage“ drücken sich um eine differenzierte Sicht auf die frühe DDR herum. Sozialisten werden zu Knallchargen degradiert. Und wieso gilt Johnson eigentlich als unverfilmbar?

von DIEMUT ROETHER

Wieso eigentlich unverfilmbar? Kaum einer der Vorberichte zum ARD-Vierteiler nach Uwe Johnsons Opus Magnum „Jahrestage“ kam ohne den Hinweis aus, dass der Roman bislang „eigentlich“ als unverfilmbar galt. Natürlich – 1.800 Seiten sind eine beeindruckend-bedrückende Vorgabe, und Johnsons Montagestil der zeitgeschichtlichen Betrachtungen, Erinnerungen und Rückblenden im Fernsehen schlicht nicht darstellbar.

Aber die Zeiten, da von einer guten Literaturverfilmung in erster Linie „Werktreue“ erwartet wurde, sind doch längst vorbei. Und sind die 1.800 Seiten der „Jahrestage“ andererseits nicht ein fantastisches Material, ein großartiger Steinbruch für einen ambitionierten Regisseur? Wird in dem Buch etwa nicht geliebt und gestritten, gelitten und gestorben? „Gefühlsduselei“ war zwar nicht Johnsons Sache. Im Gegenteil, er bemühte sich, noch die bewegendsten Ereignisse möglichst kühl zu schildern. Doch unter der spröden Erzähloberfläche verbergen sich mehr als genug Emotionen, die das Medium Fernsehen nach Herzenslust inszenieren kann.

Ungekünstelte Sprache

Genau darauf haben Regisseurin und Drehbuchautoren in ihrer Fernsehbearbeitung auch gesetzt, nachzulesen in den „Mutmassungen über Gesine“, vermutlich dem ersten „Buch zur TV-Serie“, das je bei Suhrkamp erschienen ist. Im Gegensatz zu den sonst üblichen „Making ofs“ bietet es über die unvermeidliche Selbstinszenierung aller Beteiligten hinaus tatsächlich manchen aufschlussreichen Einblick in die Werkstatt der Filmemacher. Dass sich die Arbeit gelohnt hat, zeigt sich vor allem an den Dialogen, in denen viele Originalzitate verarbeitet wurden: Denn auch dreißig Jahre danach besteht Johnsons eigenwillige Sprache den Test: modern, ungekünstelt – und fernsehtauglich!

Natürlich war Emotionalisierung gefordert, um die Zuschauer in den Vierteiler und die Welt der Gesine Cresspahl „hineinzuziehen“, um nachvollziehbar zu machen, wie belastend Erinnerung sein kann.

Dass das TV-Experiment „Jahrestage“ als in weiten Teilen geglückt ist, liegt zum einen an der gelungenen, weil verhaltenen, und sehr bewussten Emotionalisierung – und an der mit wenigen Ausnahmen hervorragenden Besetzung: Suzanne von Borsody als Gesine Cresspahl sind Heimatlosigkeit und Melancholie geradezu ins Gesicht geschrieben, Matthias Habich ist ein großartiger mecklenburgisch wortkarger Heinrich Cresspahl mit seinem „aufmerksamen, nicht deutbaren Blick“. Neben Axel Milberg, dessen Rolle als Dietrich Erichson im Film aufgewertet wurde, wirkt Kai Scheve als Jakob Abs allerdings fast charakterlos. Was Gesine an diesem blassen Schönling gefunden haben mag, wird nicht nachvollziehbar.

„Geschichte“, so Johnsons Grundbekenntnis, „ist ein Entwurf.“ Ein Entwurf ist auch der Fernsehvierteiler: Ein Versuch zu erzählen, wie eine deutsche Familie die Jahre 1930 bis 1960 erlebte und wie eine Deutsche das Amerika der Sechziger sah. Ein Entwurf, der notgedrungen die dramatischen Elemente der Familiensaga in den Vordergrund stellt und hinter der Vielschichtigkeit des Romans zurückbleiben muss. Denn Fernsehen ist nun mal ein Medium, das die Differenzierung scheut.

Die größte Herausforderung für den Fernsehfilm war daher Johnsons ambivalente Haltung zu den Aufbaujahren der DDR (nicht umsonst kam es wohl über diese Fragen zum Streit mit dem ursprünglich für die Verfilmung vorgesehenen Regisseur aus der einstigen DDR, Frank Beyer).

Schlechte Karikatur

Doch Johnsons Dilemma, das Einerseits-andererseits, sein Versuch, denjenigen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die daran glaubten, dass sie mit dem Sozialismus zugleich eine gerechtere Welt aufbauen würden, ist in der Verfilmung kaum noch nachzuvollziehen. Die Kommunisten mit ihren Propagandasprüchen sind genau solche Knallchargen wie die Nationalsozialisten. Der Stasi-Mann Rohlfs, über den es in „Mutmassungen über Jakob“ heißt, er und Jakob „hätten befreundet sein können, wenn sie nicht gestanden hätten an unvereinbaren Stellen, wenn dazu nicht der schmerzliche Unterschied der Meinungen gehört hätte“, wird in der Verfilmung – nicht zuletzt durch die übertrieben diabolische Besetzung durch Edgar Selge – zur schlechten Karikatur des Spitzels. Die große Chance, hier darzustellen, wie leicht sich gerade Idealisten zu Beginn des „neuen“, anderen Deutschlands verstricken konnten, ist vergeben worden.

Geschichte ist Entwurf, aber: Wer schreibt sie? In der westlichen Sicht der Filmemacher schrumpft die DDR zu einer mehr oder weniger lächerlichen Episode, in der der Stolz der jungen Republik auf die Aufbauleistungen in einer ihr feindlich gesinnten Welt völlig deplatziert wirkt. Für die Zuschauer der Verfilmung wird nicht nachvollziehbar, warum der junge, smarte Eisenbahner Jakob Abs nicht mit fliegenden Fahnen in den Westen überläuft. In „Mutmassungen über Jakob“ hingegen zeigt Johnson viel Respekt für den Reichsbahn-Dispatcher, der an den Sozialismus glaubt und für ihn arbeitet. Und der seinen ganzen Ehrgeiz aufbietet, um allem Materialmangel zum Trotz auch noch in der verfahrensten Situation die Pünktlichkeit der Züge zu verbessern.

Doch dafür hatte die Regisseurin Margarethe von Trotta keinen Blick. An der Gegenüberstellung BRD/DDR in den „Jahrestagen“, sagte sie in einem Interview, interessiere sie vor allem ein Aspekt: „In der DDR wurden Menschen für Geringfügigkeiten schwer verurteilt, in der BRD für schwere Verbrechen in der Vergangenheit freigesprochen.“

So viel Verflachung rächt sich – auch im seichten Medium Fernsehen: Ausgerechnet die dritte Folge, die eigentlich die anspruchsvollste und komplexeste hätte sein können, wirkt am schwächsten. Ein bisschen mehr Differenzierung hätte sicher auch das zappende Fernsehpublikum ertragen.

„Jahrestage – Aus dem Leben von Gesine Cressphal“. 3. Teil Di., Teil 4 Mi., jeweils 21.00 Uhr, ARD