der singende bauchnabel von KARL WEGMANN
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Die Heizung bollert, der blaue Burgunder fließt, und Merle Haggard jammert „Wishing all these old things were new“. „Mannomann“, sagt Willy, „der olle Hag wird immer besser. Ob der noch auf Tour geht?“ Allgemeines Schulterzucken. Die Tür geht auf, und Mecki steckt den Kopf rein: „Na, hören die Herren wieder ihre Totensonntag-Musik?“ Sie grinst kurz und kopiert Hank Williams: „I’m so lonesome I could cry“, kräht sie und ist auch schon wieder weg. Niemand kommentiert den Auftritt.

Es geht um Neuerscheinungen: Die neue Cash ist einfach überirdisch, das Neil-Young-Live-Album erscheint am 5. Dezember und so weiter ... Dann fragt Bernd plötzlich: „Was ist eigentlich aus der Kelly Family geworden?“ Erstaunt fragende Gesichter. „Na ja“, meint Bernd, „bis vor kurzem mussten wir doch mit unserer Brut jedes halbe Jahr zu dieser zappelig jaulenden Kinderkommune und jetzt ...“ – „Ausgestorben“, antwortet Hermann, „dafür haben wir jetzt den singenden Bauchnabel, Britney Spears. Genauso klebrig, nur weniger Klamotten, die Kids drehen total durch.“ Der Hag ist bei „Proud to be your old man“ angekommen, und Willy sagt: „Die Alten sind auch nicht besser. Ich war neulich bei Emmylou Harris. Zuerst saß das Publikum noch schön eingeklemmt in den Polstersesseln der Hamburger Musikhalle, aber bei der Zugabe war kein Halten mehr. Ich meine, die Frau ist 53, und plötzlich drängeln sich da Dutzende von Spotlights glänzender Glatzen vor der Bühne und strecken der armen Frau geifernd ihre Arme entgegen. Echt gruselig.“ – „Oder erinnert ihr euch noch an die Zombies beim Johnny-Cash-Konzert?“, lacht Bernd, „diese uralten Weiber im rosa Röckchen mit Cowboyhut?“

Die nächste Stunde wird über bescheuerte Fans gelästert, über Menschen, die sich ein Bob-Dylan-Porträt auf die Brust tätowieren lassen, oder solche, die einen sich ständig wiederholenden englischen Gitarristen immer noch für Gott halten. Einerseits. Andererseits ist man sich einig, dass es völlig normal ist, wenn jemand mehr als 100 Neil-Young-Bootlegs besitzt, egal in welcher Qualität, das sind schließlich Dokumente der Zeitgeschichte und nicht die schlechteste Geldanlage.

Weitere Flaschen Spätburgunder werden ihrer Bestimmung zugeführt, und die Frage wird aufgeworfen, ob sich dieses ganze aufgeblasene Pop-Musik-Ding immer weiter im Kreis drehen wird. „Kommt doch mein Ältester neulich an“, lallt Bernd, „und zeigt mir eine CD von einem gewissen Marilyn Manson. ,Hey Alter, du meinst doch immer, es gibt nichts Neues im Rock, dann guck dir das mal an.‘ Ich guck mir das Cover also an: ein Typ, der sich einen Frauennamen gibt und eine Horrorshow abzieht? Mindestens 30 Jahre alt, sag ich. Glaubt er nicht. Also renn ich in die Videothek und leih mir Alice Coopers ,Welcome to my nightmare‘ aus. Jetzt glaubt er’s.“ Man schüttelt die Köpfe, diese Kids. Dann regt man sich noch ein bisschen über deutschen HipHop auf, aber ziemlich leidenschaftslos. Willy dreht die Heizung ab, und der olle Hag lamentiert ein letztes Mal über die Qualen des fortgeschrittenen Alters.