Pariser Roulette geplatzt

Wahre Lokale (46): Nebliges Treiben im speckschwartigen Tübinger „Unckel“

Wir waren überwältigt von der Ehrlichkeit, Nacktheit, Brutalität des Ambiente

Eine urige Studentenkneipe? Nein, das war es nicht. Das galt eher für das „Boulanger“, Hegels Stammlokal: „Besser im Boulanger zu hocken, als im Stift zu beten. Ach, ich werde banal“, seufzte er 1792. Armer Hegel! Nur urige Lokale machen einen banal. Wär er halt ins „Unckel“ gegangen, ins wirkliche Leben. Aber das „Unckel“ – Terminus ante quem – gab es im Jahr 1792 noch nicht. Terminus post quem ist heute, und da gibt es das „Boulanger“ zwar noch, Hegel und das „Unckel“ aber nicht mehr. Ergo liegen Hegel und „Unckel“ in der dunklen Zwischenzeit, und die ist restlos dahin.

Das Tübinger Elend ertrug wahrlich nur, wer trank wie Hegel. Dem allerdings noch das Haigerlocher fehlte – der Urstoff aus dem schwäbischen Los Alamos. Denn alles andere – Mössinger Leichenwasser, Uhland- oder Hirschenbräu – war Jauche. Ergenzinger Ochsenbräu, das beste Bier Schwabens, bekam man leider nicht alle Tage. Ergenzingen war weit, lag noch hinter Rottenburg. Da lag das „Unckel“ näher.

Ursprünglich hieß das Lokal „Weinstube Fritz Unckel“. Später verkam es zur Bierkaschemme, obwohl der alte Fritz noch täglich, aufs Paradekissen gedrückt, in der Fensteröffnung über dem alten Namen an der Hauswand thronte. Fehlte er, war’s ein böses Omen. Niemand wusste indes, warum Fritz Unckel in der Gaststube stets ausblieb. Das Wirtinnenduo aus Mutter und Tochter bot Anlass zu wilden Spekulationen. Denn zumindest die achtzigjährige Alte hatte tatsächlich etwas von ihrem sprechenden Namen, etwas Unken-, Kröten-, Krottenhaftes. Gedrungen buckelig, mit einem quappigen Grinsen von Ohr zu Ohr, bestimmte sie grau beschürzt das Lokalgeschehen.

Hatte sie dem Alten die Beine weggebissen? Wurde er dementsprechend als Rumpfbild seiner selbst ins Fenster verfrachtet, von Frau und Kind kaltgestellt, die ihre Macht am schäbigen Tresen nicht teilen mochten? Oder hatte er vom Qualm aus Ernte 23, Rothändle und Lord einfach genug? Wir betraten die Lokalität dennoch ohne Zagen, überwältigt von der Ehrlichkeit, Nacktheit, Brutalität des Ambiente. Vorm Eintritt nahmen wir die Brillen ab, um den visuellen Schock zu mildern. Hellbraunes Resopal auf rotem Linoleum, jägerzaunartige Gatter zwischen den Tischen, beige Ölfarbe an den Wänden, blanke Scheiben zur Straße hin. Die sechzigjährige Juniorwirtin setzte uns je eine Halbe vor die Nase. Dann war es an der Zeit, nach einem kleinen Happen zu fragen – besser gesagt, auf das eindringliche Angebot der alten Frau Unckel einzugehen und ihn sich einfach vorsetzen zu lassen.

Viel Übles ließ sich den weiblichen Unckels andichten, doch ihr Bild glänzte speckschwartengleich, hatte man sich erst einmal durch die triadische Speisekarte der Unckelgerichte gefuttert. Es gab Schmalzbrot, Wurstsalat sowie Bratkartoffeln mit Speck und Spiegelei, alles schmackhaft wie bei Großmuttern. Insonderheit die rohen Gerösteten bewiesen: Das „Unckel“ war eine weltläufige kulinarische Enklave im schwäbischen Einerlei. Kaum zu glauben, dass nur zwei Ecken weiter, im „Schlachthof“, schleimige Kutteln geschrubbt, schlappe Spätzle geschabt, Flädle geraspelt, Buabespitzle kalibriert, Krautschupfnudeln geflochten und Schwabenravioli in hohle Maultaschen geschoben wurden.

Atomkellerkalt umspülte derweil das unckelsche Haigerlocher die heißen Kartoffelscheiben im Bauch. Ein mittleres Wohlgefühl stellte sich ein, der Grundstock für einen fruchtbaren Verlauf des Morgens oder Abends war gelegt. Die alte Unckel kam und erheischte unser Lob, siegesgewiss grienend und den Tisch mit feuchtem grauem Lappen verunzierend. Der Qualm hatte Frühnebeldichte erreicht und waberte durch die Jägerzäune zwischen den Trinkerinseln. Lautes Grölen brandete im kleinen Raum wie ein brausender Orkan auf.

Von unseren Unckelgesängen auf filetierten Bierdeckeln, etwa dem vielstimmigen Versepos „Bohrkern und Rumkugel“, erhielt sich nichts. Auch der geplante Raubüberfall auf die Landeszentralbank zerschlug sich später wegen anhaltend schlechten Wetters. Und reich sind wir beim hausinternen Glücksspiel auch nicht geworden. Ein einziges Mal nur frönten wir dem beliebten Würfelspiel, das ein abgerissener „Unckel“-Insasse heimlich auf der Herrentoilette mit zwei Idioten inszenierte – bis die alte Unckel wie eine lodernde Furie in den vermeintlich tabuisierten Raum einfiel: Schnaubend und Kopfnüsse austeilend riss sie dem Spielleiter den aufgeblasenen Pariser aus den Pfoten, in dem der Würfel ulkig turnte. Gerade oder ungerade? Bei sechs gewinnt der Gummiwürfler. Die Zehnmarkscheine verschwanden für immer in ihrer Kittelschürze. Pariser Roulette. Das gab es nur im „Unckel“.

TOM WOLF