Suche nach dem Kino

Berauschende Zumutung: Zu Godards 70. zeigt Arte erstmals die von 1989 bis 1999 entstandenen „Histoire(s) du Cinéma“ (Teil 1 heute, 0.05 Uhr)

von CLAUS LÖSER

Wenn Jean-Luc Godard, der sich selbst gerne so kurz wie diskret JLG nannte, auch dem Fernsehen stets skeptisch gegenüberstand („Das Kino produziert Vergangenheit, das Fernsehen Vergessen.“), so kam er doch nicht umhin, sich diesem Medium mehrfach zu widmen.

Nach seinem zwischenzeitlichen Rückzug vom bürgerlichen Film 1969 war er einer der ersten, der konsequent mit Video experimentierte, seit Mitte der 70er nahm er in unregelmäßigen Abständen immer wieder Aufträge für die eidgenössischen und französischen Bildschirme an. Dass sein Requiem auf das geliebte Kino als Fernsehproduktion daherkommt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, ist andererseits jedoch nur konsequent. Das Kino, so wie wir es kennen, räumt JLG ein, sei eine verlorene Sache. Mit Hilfe des Fernsehens hat er sich nun auf die Suche gemacht, um es wiederzufinden.

Anders als der Titel vielleicht suggeriert, handelt es sich bei „Histoire(s) du Cinéma“ keineswegs um eine empirische oder chronologische Aufarbeitung eines klar umreißbaren, kulturhistorischen Phänomens. Das Werk stellt vielmehr eine kolossale Assoziationsmontage dar, eine von Zitaten und Verweisen fast berstende Enzyklopädie des Kinos. Vier Stunden, die dem Zuschauer/Zuhörer alles andere als entspannte Unterhaltung bieten.

JLG sitzt am Schneide- und Schreibtisch, blättert in Büchern, tippt in die Maschine, spricht Texte. In mehreren Ebenen übereinander türmen sich parallel dazu Splitter aus JLGs eigenen Filmen, Ausschnitte aus Spielfilmklassikern und Dokumentationen, eingeblendete Texte, Fotos und Gemälde, das alles unterlegt mit O-Tönen, mit Musikfetzen und einem zusätzlichen, verbalen Kommentar von JLG selbst. Insgesamt wahrlich keine leichte Kost: Elektronisch bearbeitete Fragmente aus Lang-, Buñuel- oder Hitchcockfilmen können gleichberechtigt neben der Musik von Leonard Cohen, Patti Smith oder Arvo Pärt stehen und werden zusätzlich vom knarrenden Kommentar JLGs unterlegt, der einerseits geballte, zusätzliche Informationen in die Collage pumpt, andererseits auch „nur“ als blanke Lyrik daherkommt. (Leider geht die authentische Ebene durch die Synchronisation verloren!)

„Histoire(s) du Cinéma“ stellt in gewisser Hinsicht eine Zumutung dar – aber eine berauschende. Der amerikanische Filmkritiker Jonathan Rosenbaum hat diese Fernseharbeit mit „Finnegans Wake“ von James Joyce verglichen, und tatsächlich hat es dergleichen im multimedialen Bereich noch nicht gegeben. Godards Bearbeitung des historischen Materials wäre noch am ehesten mit den Found-Footage-Experimenten des Österreichers Martin Arnold oder des Amerikaners Greg Baldwin zu vergleichen, geht aber in seinem essayistischen Charakter weit über deren spielerischen Ansatz hinaus. Kurioserweise war JLGs kulturgeschichtlicher Steinbruch bislang nur als Audio-Edition zugänglich: bei ECM erschien vor genau einem Jahr die aus fünf CDs und vier Textbänden (auf Französisch, Englisch und Deutsch) bestehende Ausgabe. Das Gesamtkonzept wurde in enger Zusammenarbeit mit ECM-Lektor Manfred Eicher entwickelt, der Godard beharrlich Musik vorschlug, von der sich der Filmemacher dann zu Bildern inspirieren ließ. Jetzt ist der dazugehörige Film gefunden worden.

Bleibt noch, Jean-Luc Godard als Lyriker zu entdecken: „Wenn ein Mensch das Paradies im Traum durchquerte / und eine Blume erhielte als Beweis für seinen Aufenthalt / und er beim Erwachen diese Blume in seinen Händen hielte / was würde er sagen // Ich war / dieser Mensch“. Mit diesen Zeilen enden die kompakten 263 Minuten filmischer Erinnerungsarbeit.

Teil 2 morgen, 0.45 Uhr