IN JAPAN FUNKTIONIERT DIE DEMOKRATIE SCHON SEIT JAHRZEHNTEN NICHT
: Komplott von Regierung und Presse

„Als Sturm im Wasserglas“ beschönigen politische Kommentatoren Japans die kurzlebige Rebellion. Ursprünglich wollten auch Fraktionsmitglieder der liberaldemokratischen Regierungspartei (LDP) den unbeliebten Premier Yoshiro Mori stürzen. Doch nur Minuten, nachdem die Opposition einen entsprechenden Misstrauensantrag eingereicht hatte, bekamen die aufsässigen LDP-Rebellen rund um das Politschwergewicht Kato Koichi kalte Füße: Sie setzten die Unterstützung für den Antrag aus. Es war klar, dass die Opposition damit machtlos zusehen musste, wie ihr Misstrauensvotum von der Regierungskoalition zu Boden gestimmt wurde. Das obligate siegesbewusste Lächeln auf den Hinterzähnen einiger LDP-Patriarchen verstimmte viele Wähler zutiefst. „Eine schlimmes Kabukitheater, das uns da vorgeführt wurde“, war einer der stärkeren Ausdrücke, die in den Vorortbahnen am nächsten Tag zu hören waren.

Das politische Kabukitheater gilt als traditionelles LDP-Prinzip – wie auch das siegesbewusste Lächeln der führenden Patriarchen, die wichtige Entscheidungen in der japanischen Politik nicht im Parlament, sondern in verrauchten Hinterzimmern und „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ ausfechten. Genau dies geschah am Montagabend; und der Kuhhandel, den die Rebellen – die selbst in der deutschen Presse als Reformer gepriesen wurden – mit den Patriarchen ausgehandelt haben, bleibt vorerst mal unter Verschluss.

Nun kann der geneigte Beobachter dies als ein kurioses Merkmal der japanischen Politik abtun – das so unverständlich und exotisch anmutet wie alles in diesem Inselreich. Weniger geneigte Beobachter erkennen darin jedoch eine Herrschaftsstruktur, die gegen sämtliche Spielregeln einer funktionierenden Demokratie verstößt. Ein Stein des Anstoßes ist bereits, wie Premier Mori überhaupt zu seinem Amt gekommen ist: Kurz nachdem der frühere Premier Keizo Obuchi im April ins Koma gefallen war, wurde er von vier Parteipatriarchen als Kronprinz auserkoren und in den Sessel gehoben. Die LDP befand es nicht einmal für nötig, eine parteiinterne Abstimmung abzuhalten, um den neuen Vorsitzenden zu bestimmen. Wer will es da einigen kritischen Kommentatoren verargen, dass sie damals von Zuständen wie in Pjöngjang gesprochen haben.

Die undemokratische Methode, den japanischen Premier zu bestimmen, ist mit dem Kuhhandel vom Montag erneut ins Schlaglicht gerückt. Schon lange fordern ein Teil der Wähler und die Opposition, dass Japan endlich das britische System einführt, in dem der Premier vom Volk gewählt wird. Bisher schaffte es die Regierungspartei jedoch, solche Reformvorhaben schon im Keim zu ersticken. Wer sich bisher damit tröstete, dass mindestens innerhalb der Regierungspartei die Rebellion möglich sei, ist am Montag ebenfalls herb enttäuscht worden.

Damit sei die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung wiederum gestiegen, plärrten die japanischen Kommentarseiten in fetten Titeln. Das stimmt, doch könnte die japanische Presse durchaus dazu beitragen, gegen diese Politikverdrossenheit anzugehen – indem sie endlich die Spielregeln der Demokratie in hintergründigen Kommentaren erklären würde. Nichts dergleichen ist zu lesen! Die Medien stecken als die vierte Macht im Lande mit den Politikern unter einer Decke und tun alles, damit den ausländischen Journalisten der Zugang zu den verschiedenen Presseklubs im Parlament verwehrt wird – sie könnten ja das politische Hauen und Stechen in den Hinterzimmern aufdecken. Und so wie die Binnenpresse die internationalen Spielregeln der Informationsfreiheit und Transparenz nicht einhält, so hält sie es auch nicht für nötig, die Verletzungen demokratischer Spielregeln durch die eigenen Politiker zu kritisieren.

Raus aus den verrauchten Hinterzimmern, raus aus den geschlossenen Presseclubs – nur dann kann die japanische Demokratie funktionieren. Wenn es endlich mehr Transparenz in den Medien gäbe, bräuchte dieses Land kein Heer von gut bezahlten und parteiischen Politikkomentatoren mehr, die bei jeder Regung der LDP vor die Bildschirme geholt werden, um so sinnige Sprüche zu verkünden wie jenen vom „Sturm im Wasserglas“. Wie sagt das chinesische Sprichwort doch so schön: Der Frosch im Brunnenloch hält den Himmel für eine runde blaue Scheibe. ANDRÉ KUNZ