Republikaner mit Klemmbrettern

Misstrauische Republikaner beobachten die Wahlhelfer beim Nachzählen und vergiften die Stimmung. Derweil warten die USA auf das Urteil des Obersten Gerichts von Florida, ob die manuelle Nachzählung überhaupt berücksichtigt werden muss

aus Miami-Dade PETER TAUTFEST

Vom 18. Stock des Bürohochhauses der Countyverwaltung von Dade, wo in einem leer geräumten Konferenzsaal Stimmen gezählt werden, hat man einen herrlichen Blick auf ganz Miami, die Bucht von Biscayne und das gegenüberliegende Miami Beach. Nirgends ist der Zugang zum Ort des Geschehens so frei wie hier: kein Sicherheitscheck, keine Fragen, hier kann jeder zugucken. Die Beratungen der Wahlkommission über strittige Wahlzettel, über die Wahlscheine mit „Grübchen“ oder „schwangeren Wölbungen“, die auf einen Wählerwillen schließen lassen könnten, werden per Lautsprecher übertragen, sodass jeder mithören kann.

Nirgends ist das Verfahren so offen und pittoresk wie hier, nirgends aber ist die Atmosphäre so gespannt und geladen wie hoch über der Down-Town von Miami, nirgends waren „Observer“ und „Counter“ so zugeknöpft und abweisend. Der Raum wimmelt von republikanischen Aufpassern, die mit Klemmbrettern unterm Arm und Sorgenfurchen auf der Stirn herumlaufen. Ein herunterfallender Schnipsel – eines von diesen beim Wahlvorgang herausgestanzten oder doch nicht ganz herausgestanzten oder von den Zählern unerlaubt herausgedrückten Plättchen – wirkte auf einen der republikanischen Beobachter wie die aus den Kleiderfalten eines sich davonschleichenden Mörders herausfallende Kinderleiche. Beweist es doch, dass die Wahlzettel durch ständige Handhabung ihre Aussage verändern.

Der Abgeordnete John Sweeney aus New York, der nach Miami gekommen ist, um zu schimpfen, war zu vernehmen, wie er zu einem republikanischen Kollegen sagte: „Es ist entsetzlich frustrierend.“ Von Wahlfälschung spricht er und von einer neuen Industrie, die Miami geschaffen habe: die „Fabrikation von Gore-Stimmen“. Da Gore in den Zählbezirken Palm Beach und Broward nicht so an Stimmen zulegt wie erwartet, wird Dade zum letzten Gefechtsfeld, wo die Wende in der Schlacht ums Weiße Haus herbeigeführt werden kann – oder auch nicht. Falls hier Wahlbetrug stattfindet, dann ist noch nie so vor aller Augen gefälscht worden.

Das eigentliche Ereignis des Tages fand derweil allerdings am anderen Ende des Bundesstaats in der Hauptstadt Tallahassee statt. Vor dem Obersten Gerichtshof Floridas rangen Anwälte und Richter um den Ermessensspielraum der Innenministerin, den Zeitrahmen für die Abgabe von Wahlergebnissen, die Höherrangigkeit solcher Rechtsgüter wie Wählerwillen, Gewaltenteilung und ordentliche Beglaubigung von abgegebenen Stimmen. Der demokratische Staatsanwalt Floridas, die umstrittenen Landkreise und das Wahlkampfteam Gores haben beantragt, das Gericht solle die manuellen Auszählungen der Stimmen ungeachtet der Terminüberschreitung zulassen.

Nach zweieinhalb Stunden Anhörung vertagten sich die Obersten Richter, ohne Florida und die Welt wissen zu lassen, wann und was für ein Urteil sie zu fällen gedenken. Wenn das Gericht allerdings bis zum 12. Dezember nicht entschieden hat, kann Florida im Wahlmännergremium nicht seine 25 Stimmen einbringen. Dann hätte Gore gewonnen. Und wenn die Richter urteilen – und die meisten Medien rechnen mit einer Entscheidung bis heute Abend –, dann kommt es darauf an, was sie entscheiden. Womöglich hat Gore Glück, wenn die Richter gegen das Mitzählen der nachgezählten Stimmen entscheiden. Dann bleibt Gore der Held, der um seinen Wahlsieg betrogen wurde, weil niemand weiß, ob er am Ende nicht eine Mehrheit der Stimmen bekam. Wird aber ausgezählt, kann es passieren, dass er Bushs Vorsprung von derzeit 930 Stimmen nicht aufholen kann und für alle Zeit als der schlechte Verlierer dasteht, als den ihn die Bush-Leute schon seit Wochen zu stempeln versuchen. Nach inoffiziellen Angaben hat Gore durch die Handzählungen bislang nur knapp 170 Stimmen hinzugewonnen.

Während in Tallahassee noch gerungen wurde, trugen auf der Strandmeile von South Beach die schönsten Menschen der Welt in den knapp sitzenden Kleidern der USA ihre perfekt gebauten Körper und ihre faltenlose Haut über den Jahrmarkt der Eitelkeit. Hier, wo die Reichsten und Schönsten vor pastellfarbenen Art-déco-Fassaden promenieren, hier, wo in den Schaufenstern gewagte Schnitte aus durchsichtiger Silberfaser hängen, hier ist völlig gleichgültig, wer am Ende in Washington das Sagen hat.