Wählerwille vor Abgabetermin

Floridas höchste Richter entscheiden im Sinne des Vizepräsidenten Al Gore: Jetzt darf bis Sonntag weitergezählt werden. Die Republikaner wollen weiter alle Rechtsmittel gegen das Urteil ausnutzen – bis zum Obersten Gerichtshof der USA

aus Florida PETER TAUTFEST

Wählerwille geht vor Abgabetermin – auf diese kurze Formel lässt sich das Urteil des Obersten Gerichts Floridas vom Dienstagabend bringen. Und Maschinen sind nicht unfehlbar, darum darf die Auszählung per Hand weitergehen. Das ist ein Erfolg für die Kampagne von Al Gore und eine Niederlage für George W. Bush – vorerst wenigstens. Das Rennen bleibt offen.

Die Richter haben, wie das nun mal Richters Art ist, es König Salomon nachzutun versucht und eine kleine Paradoxie in ihrem Urteil untergebracht. Wozu gibt es in Florida ein Gesetz, das die Nachzählung per Hand erlaubt, wenn das floridianische Innenministerium den Nachzählern keine Zeit zum Nachzählen lässt, heißt es in dem Urteil. Insofern habe Innenministerin Katherine Harris geirrt, als sie auf ein anderes floridianisches Gesetz pochte, dass die Abgabe der Wahlergebnisse auf den siebten Tag nach der Wahl festsetzte. Die obersten Richter aber ließen den Zählern auch nicht viel Zeit, denn auch sie setzten eine Frist. Jetzt müssen die über eine Million Stimmzettel bis Sonntag 17 Uhr beim Innenministerium sein oder, sollte das Büro sonntags nicht geöffnet sein, am Montag früh um neun.

Die von den Richtern eingeräumte Frist soll sicherstellen, dass Einsprüche gegen das Zähl- und Wahlergebnis erhoben werden können, bevor Florida am 12. Dezember seine 25 Wahlmänner benennt, die am 18. Dezember Floridas Stimmen für den US-Präsidenten abgeben. Wie sollen die drei Landkreise, in denen gezählt wird, das schaffen? Zumal Thanksgiving ins Haus steht, das US-amerikanische Erntedankfest, und die Zähler am Donnerstag zum Truthahnessen freinehmen wollten. In Palm Beach ist man fast fertig, ebenso in Broward. Dade County jedoch setzte gestern prompt die Auszählung aus: Das Nachzählen aller 700.000 Stimmen sei nicht zu schaffen, teilte die Wahlkommission des Bezirks mit. Jetzt will die Kommission lediglich jene 10.600 Stimmzettel neu auszählen lassen, die von den Zählmaschinen als ungültig abgelehnt worden waren.

Aber gerade die bereiten Kopfschmerzen. Sie müssen jeweils von den drei Wahlleitern im Range von Richtern entschieden werden. Um die vorgestanzten und mehr oder weniger deutlich vom Wähler herausgedrückten Plättchen wird es zum letzten Gefecht kommen. An diesen strittigen Lochkarten hinge ein Wahlsieg Gores, denn die Zählung der unstrittigen Stimmzettel hat ihm nur mäßigen Gewinn eingebracht.

Jeder der drei zählenden Counties hat dabei seine eigenen Standards, wann ein Wählerwille zu erkennen ist. Reicht es, wenn das Plättchen nur ausgebeult – wenn die Lochkarte gleichsam „schwanger“ ist – oder wenn sie ein „Grübchen“ hat oder wenn das Plättchen nur noch an einer oder zwei Ecken hängt?

Wenn nach texanischem Gesetz verfahren würde, würden alle „Beulen“, „Wölbungen“ und „Schwangerschaften“ als Stimmen zählen. In Florida aber gibt es ein derartiges Gesetz nicht, und die Deutung des Wählerwillens ist ins Ermessen des Wahlleiters gestellt: „Nach texanischem Gesetz wäre das eine Stimme für Gore“, murmelt Wahlleiter Richter Robert W. Lee ein ums andere Mal im Zählraum von Broward County, „hier in Florida aber ist das keine Stimme.“

Das Gericht hat darauf verzichtet, den neun Wahlleitern Hinweise darauf zu geben, wie sie die Ausbeulungen und nur halb eingedrückten Vorstanzungen der Lochkarte werten sollen, sondern nur auf ein Gesetz in Illinois verwiesen, das auf den Wählerwillen abhebt, der erkennbar sein muss. Wählerwille geht eben über alles. Man kann sich vorstellen, wie die republikanischen Beobachter den Prozess der Deutung zu einer neuen Form der Kriegführung machen werden. Jede Verzögerung rückt den Abgabetermin näher, jede angezweifelte Stimme könnte eine Stimme weniger für Gore sein – immerhin sind die drei Landkreise von den Demokraten dominiert. Die Republikaner haben von Anfang an darauf verzichtet, in Counties mit republikanischer Mehrheit nach undeutlichen Bush-Stimmen zu suchen.

Die Republikaner werden aber das ganze Verfahren anfechten. Sie haben angedeutet, vors oberste Bundesgericht, den Supreme Court in Washington, gehen zu wollen, und haben auch einen Rekurs auf Floridas Landtag in Aussicht gestellt. Nach floridianischer Verfassung hat der nämlich das Recht, Wahlmänner auch in Abweichung vom Wahlergebnis zu bestimmen, und in Floridas Parlament haben Republikaner eine Mehrheit. Es darf also daran gezweifelt werden, dass der Wahlausgang am kommenden Montag wirklich feststeht – es sei denn, bis dahin stellt sich heraus, dass Gore nicht genug Stimmen gewinnt, um Bushs Vorsprung von derzeit 930 Stimmen zu überrunden.