Alle Räder stehen still...

■ ... wenn ein starker Komponistenarm das will? Zumindest suchen Komponisten nach neuen Formen des Widerstands. Das Neue-Musik-Festival „Horizont ...“ will erkunden, wo sich die Fundamentalopposition denn heute versteckt hält

Heute beginnt das von der Projektgruppe Neue Musik Brmen organisierte, dreitägige Festival „Horizont – Strategien des Eigensinns in zeitgenössischer Musik“. Der an der Hochschule für Künste lehrende Nicolas Schalz ist Mitinitiator. Mit ihm sprachen wir über die Nähe von Philosophie und Neuer Musik, den Aufstand der Eigensinnigen und die Lust am Unglücklichsein.

taz: Im Reader zu Ihrem Festival zitieren Sie Philosophen wie François Lyotard, Norbert Bolz, Gilles Deleuze, Theodor W. Adorno. Ist zeitgenössische Musik nur um den Preis eines intensiven Theoriestudiums zu haben?

Nicolas Schalz: So ist es von uns nicht gemeint. Natürlich kann man Neue Musik „für sich selbst“ hören. So wird es ja bei den großen Festivals auch gehandhabt. Was wir dagegen versuchen, ist eine Art Verbalisierung herzustellen. Wir machen uns die Mühe, über die Musik reden zu können, auch mit Nicht-Musikern reden zu können. Dafür braucht man aber Kategorien, auch, um die Neue Musik aus ihrer Isolation zu befreien, in der sie sich ja noch immer befindet.

Einige Komponisten haben im Reader die ihren Stücken zu Grunde liegende Idee beschrieben. Es fällt auf, dass die Komposition als sehr bewusster Prozess aufgefasst wird, der gezielt auf einen bestimmten Zweck hin ausgerichtet ist. Ist Komposition in der Neuen Musik ein so rationales Tun, die Übersetzung von Theorien in das Medium der Musik?

Es ist das Schicksal der Komponisten seit Anfang des 20. Jahrhunderts, dass sie sich mit Schriften selbst begleiten, weil sie immer gedacht haben, dass ohne diese Form der Begleitung, die ja ein größeres Publikum erreicht als diese Musik allein, die Ohnmacht der Neuen Musik nicht aufgehoben werden kann. Das hat bei einigen Komponisten zum Teil abstruse Maße angenommen, die zu jedem Musikstück dicke „philosophische“ Bücher publiziert haben. Das ist aus der Sicht der Musik womöglich keine so gute Tendenz des 20. Jahrhunderts. Sie ist aber nunmal da.

Also illustrieren die Komponisten mit ihren Werken die Texte von Adorno & Co?

Nein, dass gerade ist nicht intendiert. Mit der Verbalisierung wollen diese Komponisten nur eine Art Akkreditierung in der Gesellschaft finden und so gegen das Vorurteil ankämpfen, Neue Musik sei vor allem ödes Geplänkel von Spinnern. Aber gerade weil diese Verbalisierung nicht unproblematisch ist, gibt es auch eine ganze Reihe von Komponisten, die sich die Interpretation ihrer Stücke verbitten und auch sonst kein Wort über ihre Musik verlieren wollen. Die Tagungsmusik als Illustrationen der Readertexte zu begreifen, wäre ganz falsch. Was die Texte vielleicht leisten ist, dass sie andere als musikalische Kategorien bereitstellen, um einen eigenen Zugang zu den musikalischen Strukturen zu eröffnen.

Können Sie das am Beispiel erläutern?

Ein Beispiel wäre Luigi Nonos Stück „Fabbrica illuminata“ von 1964. Das ist ganz klar einer linken politischen Ästhetik verpflichtet, die damals die Stichworte „Dialektik“ und „Widerstand“ hochgehalten hat. Dialektik ist eine Bewegungsform, die sich auf ein Ziel hin entfaltet. Das Stück bildet diesen Impuls in seiner Struktur genau ab: Dynamik und Utopien sind nötig, wenn gegen den Status quo opponiert wird, und in der Musik findet sich eine überzeugende alternative Struktur. So wie Nono schreiben die heutigen Komponisten ihre Stücke nicht mehr. Sie schreiben zwar noch strukturiert, aber eher in der Form des Fließens, des Wanderns, des Gehens ohne zu wissen, wohin. War für Nono das Ziel seines Schaffens noch klar benennbar, so ist die Suchbewegung das Charakteristikum der zeitgenössischen Komponisten. Genau das finden wir auch in der Philosophie wieder, etwa in den Texten von Deleuze, wo der Abschied vom großen Welterklärungssystem im Zentrum steht. In diesem Sinne stellen wir Musik und Text zueinander: Nicht als gegenseitige Illus-tration, sondern als Indiz für verwandte Prozesse, für ein Weltempfinden, wo es Ähnlichkeiten gibt. Diese Philosophen und Musiker begreifen sich als suchende Nomaden.

Was Sie da jetzt beschreiben, gilt als Credo der Postmoderne. Plädiert die Projektgruppe also im Sinne von Norbert Bolz für ein Denken in Theorieruinen unter dem Marschbefehl „Konsens ist Nonsense“?

Das ist eine Position, die wir auf der Tagung diskutieren und die wir auch mit ihrem totalen Gegensatz – wie etwa die Position von Gilles Deleuze – konfrontieren. Bolz ist ein Provokateur, der sagt: Was regt ihr euch adornitisch über die gesellschaftlichen Zustände auf. Akzeptiert sie doch, und ihr werdet glücklicher sein. Deleuze dagegen ist ein fanatischer Oppositioneller, der gegen diese Form der Resignation ankämpft, ohne sich dabei noch auf weltumspannende systematische Entwürfe zu beziehen. Das ist kein Denken in den alten Theorieruinen, sondern ein eigensinniger schöpferischer Suchprozess.

Umfasst die Vorstellung des in diesem Sinne eigensinnigen Denkers noch ein gesellschaftspolitisches Programm oder huldigen Sie damit nicht vielmehr einer altbackenen Genieästhetik?

Die Kategorie „Eigensinn“ haben wir erst spät in unseren Tagungstitel aufgenommen. Offenbar ist es so, dass die von uns in den Mittelpunkt gerückten Musiker wie Philosophen über ein starkes Ich verfügen, das sich in Opposition begibt. Aber die von ihnen entwickelten Positionen kreisen nicht um sie als Personen, sondern sind tatsächlich Ausdruck des Versuchs, Widerstand neu zu interpretieren, also Möglichkeitsfelder des Eigensinns zu bestimmen. Die argentinische Komponistin Silvia Fómina ist dafür ein gutes Beispiel. Sie ist der Junta in Argentinien früh entflohen und irrt seitdem durch die Welt und findet keinen Halt. Inzwischen hat sie genau diese Ortlosigkeit zu ihrem Lebensstil gemacht. Sie nennt sich eine Nomadin, hat nur einen Koffer bei sich und arbeitet in Bibliotheken, Kunsthallen oder wo auch immer sie Unterschlupf findet. Sie will überhaupt nichts zu tun haben mit dieser Gesellschaft, die sich immer weiter abschottet. Ihre Musik dagegen ist eine Form von positiver klanglicher Globalisierung, die zugleich versucht, eine Kolonialisierung der jeweiligen musikalischen Eigenwelten zu vermeiden. Das ist eigensinnig. Und zugleich beinhaltet das eine philosophische Position. Fragen: zott

Das Festival beginnt heute Abend um 20 Uhr in der Galerie Rabus (Plantage 13). Details des Programms können der Anzeige unten entnommen oder erfragt werden unter Tel.: 33 99 350.