Straff antreten, still gedenken

Was tun, wenn die rechten Friedhofsgäste keine Gesetze übertreten?

von Usedom ANTJE KRÜGER

Jedes Jahr das gleiche Spiel. Ein sanfter Hügel, vereinzelt Steinkreuze. Seit sechs Jahren versammeln sich hier auf dem Golm, einem der größten Kriegsfriedhöfe Deutschlands, nicht nur Angehörige und Interessierte, um am Volkstrauertag der 23.000 Opfer eines Bombenangriffs von 1943 auf Swinemünde zu gedenken. Es marschieren auch Jugendliche auf – die Haare kurz, uniformiert mit Bomberjacke und Springerstiefeln. Sie kommen von der Insel Usedom und aus dem Umland, gehören polizeibekannten Kameradschaften an und sind zwischen 17 und 25 Jahre alt. Mit ihnen läuft die NPD und der eine oder andere alte „Kampfgenosse“. Sie kommen, formieren sich in Reih und Glied, legen Kränze auf dem zentralen Gedenkstein des Friedhofs nieder und gehen. Nichts wird beschädigt oder beschmiert, kein Hitlergruß gezeigt, keine Fahne geschwenkt. Die Polizei – machtlos.

Rechte Redner

So auch wieder am vergangenen Sonntag. Dieses Jahr jedoch ändern die Rechten, unter ihnen viele Skinheads, die Taktik. Sie kommen nicht wie sonst außerhalb der offiziellen Feierstunde, zu der die Interessengemeinschaft Golm, die sich um die Gedenkstätte kümmert, geladen hatte. Zwanzig rechte Jugendliche mischen sich unter die etwa hundert Besucher. Still hören sie sich die Reden von Ingeborg Simon, der Vorsitzenden der Interessengemeinschaft, Eduard Berger, dem Bischof der Pommerschen Kirche, und dem Landrat von Anklam, Herbert Kautz, an. Blumen und Kränze haben sie schon abgelegt.

Die Umstehenden – hilflos. Nur Ingeborg Simon, die etwa 70-Jährige, sagt zu Beginn ihrer Rede: „Erschreckend an dieser Feierstunde ist, dass wir Jugendlichen hier begegnen, von denen wir in diesem Jahr mehr Zurückhaltung erwartet hätten angesichts des Mordes an dem Ahlbecker Obdachlosen, mit dem sich ihre Gesinnungsfreunde schuldig gemacht haben.“ Kaum hörbares Murren bei den Jugendlichen: Mit den Mördern wollen sie nicht gleichgesetzt werden.

Sie bitten, nachdem die Reden gehalten wurden, dass „auch die Jugend zu Wort kommen möge“. Ein Kurzhaariger, Anfang zwanzig, tritt vor, zwei Seiten Text in der Hand. Schon nach der Anrede „Kameraden und Kameradinnen“ gehen die ersten. „Unverschämtheit“, „Das muss man sich ja nicht anhören“, heißt es im Publikum. Als das Wort „Heldengedenken“ fällt, bricht Bischof Berger in ruhigem Ton die Rede ab. Zwischen ihm und den Jugendlichen entspannt sich eine Diskussion. Auch diese ohne heftige Worte, keine Beleidigungen, Freundlichkeit. Der Bischof reicht dem Redner seine Telefonnummer und bietet ein Gespräch an. Landrat Kautz schließt sich an. „Diese Jugendlichen fühlen sich in der Art, wie über sie, aber nicht mit ihnen geredet wird, missverstanden“, sagt Berger.

Wie reagieren? „Da wird so viel von Demokratie geredet, und dann lassen sie die nicht aussprechen“, regt sich ein älterer Herr auf. „Muss man nicht auch Grenzen setzen?“, fragt jemand zurück. Eine Dame beschwert sich, „dass nicht einmal das Pommernlied gesungen wurde“.

Jedes Jahr die gleichen Debatten, die gleiche Ratlosigkeit, die gleiche Ohnmacht. Seit 1995, seit die ersten Kränze der Rechten am Golm auftauchten. „Diese Jugendlichen wissen genau, wie weit sie gehen können“, sagt Axel Falkenberg, Sprecher der Polizeidirektion Anklam. Jetzt zieren die Kränze keine verfassungsfeindlichen Symbole oder Sprüche mehr. Die Jugendlichen signalisieren der Polizei: „Wir wollen keinen Ärger.“ Nur in Ruhe „gedenken“.

Und das kann ihnen nicht verwehrt werden. Laut Bundesgräbergesetz ist jedem der Zutritt zu einem Friedhof zu gestatten. Auch wenn der Volkstrauertag zum Anlass genommen wird, wie zu Adolfs Zeiten die „Helden zu ehren“. „Das mag mit dem Geschichtsempfinden vieler nicht vereinbar sein“, sagt Reinhard Wegner vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. „Aber rechtlich kann man dagegen nicht vorgehen.“

Und so wird weiter gerätselt, nach Ursachen gefragt. „Könnte es nicht sein, dass die ganze Diskussion um Rechtsextremismus heute ein Alibi für die Großväter und Väter ist, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit nicht auseinandersetzen zu müssen und statt dessen auf die Jugendlichen zeigen zu können?“, fragt nachdenklich der einstige Pastor Otto Simon, der sich heute mit seiner Frau Ingeborg um den Golm kümmert. Die zumeist älteren Leute an der Gedenkstätte reagieren betroffen. „In Gesprächen mit meiner Enkelin merke ich, was für eine Bildungslücke in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg unter jungen Leuten herrscht“, erzählt Herr L. aus Heringsdorf, der seinen vollen Namen nicht nennen will. Er fügt hinzu: „Was zum Teil in der DDR übertrieben wurde, wird jetzt weggelassen.“ Und Pastor Simon, der ungern Schuld delegiert, warnt: „Bevor wir diese Jugendlichen verurteilen, müssen wir zunächst einmal über uns selbst reflektieren.“ Was die Jugendlichen auf die Kranzschleifen drucken lassen, trifft auf unterschiedliche Meinungen. „Eine Schande“, sagt ein Anwohner, der den Krieg auf dem Golm noch miterlebt hat. „Eure Ehre hieß Treue“, steht da. Oder „Ein Volk, das solche Helden hat, ist zum Siege bestimmt.“ Ein anderer Mann meint: „Dem Spruch ,Unsere Großväter waren keine Verbrecher‘ kann ich nur zustimmen. Ich war nicht freiwillig im Krieg.“

Bis zu fünfzehn Kränze mit Aufschriften von Ehre und Ruhm werden Jahr für Jahr im November an der Gedenkstätte abgelegt. Oft bleiben sie wochenlang liegen. „Die Kränze wegnehmen bringt doch nichts. Damit provoziert man nur“, sagt Frau M. aus einem Dorf in der Nähe. Der Versuch eines Anwohners vor zwei Jahren, die Blumengebinde im Anschluss an den Volkstrauertag wegzuräumen, wurde mit einer Anzeige beim Ordnungsamt beantwortet. Und so bleiben das Tannengrün der „Kameradschaft Uecker-Randow“, des „National Germanischen Bruderbundes“ oder die Blumen der NPD liegen. „Das heißt doch, die haben gewonnen, oder?“, fragt ein alter Mann aus dem Nachbardorf Kamminke. Noch im Januar diesen Jahres schauten die Schleifen vom Volkstrauertag 1999 durch den harschen Schnee. Sichtbar für jeden – der sie sehen will.

„Erschreckend ist, dass bisher kaum jemand darüber erschrickt“, sagt Pastor Simon. 20.000 Besucher zählt der Friedhof im Jahr. Erst seit dem Mord an dem Ahlbecker Obdachlosen in diesem Sommer schreiben Besucher und Anwohner ihre Betroffenheit über die neonazistischen Umtriebe ins Gästebuch. Überregionale Medien sind auf die Problematik der Rechten am Golm bisher nicht aufmerksam geworden und die regionalen Zeitungen berichten nicht. „Diese Jugendlichen verhalten sich ja nicht provokativ. Wir wollen ihnen keine Öffentlichkeit bieten“, sagt Ingrid Nagler von der Ostseezeitung. Die Aufzüge der Rechten am Golm wurden in den Lokalzeitungen zumeist nur in Randnotizen erwähnt.

Denn anders als in Großstädten ist Anonymität auf der Insel nicht gegeben. Auf keiner Seite. Eine Schülerin eines Gymnasiums in der Gegend wollte im vergangenen Jahr einen Aufsatz über die Geschichte der Gräber schreiben. Ging zum Volkstrauertag hin. Und traf auf Klassenkameraden, die zum „Heldengedenktag“ kamen. Danach hat sie den Aufsatz nie geschrieben. Man kennt sich untereinander. Und bleibt lieber vorsichtig.

Auch die Polizei geht davon aus, von den Rechten beobachtet zu werden. Autokennzeichen wurden vermerkt. Zu Übergriffen auf Polizisten sei es auf der Insel jedoch noch nicht gekommen. „Ich weiß nicht, ob einzelne Beamte Angst haben. Doch sie können mit der Situation umgehen“, sagt Polizeisprecher Axel Falkenberg.

Jeder beobachtet jeden

Denn auch die rechte Szene steht unter Kontrolle. Mehr als 30 Kameradschaften in Mecklenburg-Vorpommern sind polizeibekannt. Die Präventionsgruppe „Mobile Aufklärung Extremismus“ der Kripo (MAEX) beobachtet vor allem Geschehnisse wie die am Golm, fotografiert und wertet aus. „Wir wissen, wer zu den einzelnen Kränzen gehört. Wir erkennen zum Teil schon am Autofahrer, wer noch mit im Wagen sitzen muss“, behauptet Axel Falkenberg.

Und so beobachtet jeder jeden.

Doch während die einen es vorziehen, nicht genannt zu werden, treten die anderen immer offener auf. Am 19. November unterschrieben acht Mitglieder der „Freien Nationalisten Anklam“ im Gästebuch der Gedenkstätte – mit vollem Namen. Es waren jene, die zuvor versucht hatten, die Rede zu halten.

Die Mitglieder der Interessengemeinschaft Golm diskutieren nach dem Ende der Gedenkstunde das neue Verhalten der Rechten. Und draußen, in der Dunkelheit des Novemberabends wird versucht, Fackeln zu entzünden. Geschehen, als außer der Polizei niemand mehr vor Ort ist und keiner mehr mit dem Auftauchen der rechten Szene rechnet. Wieder etwa 160 Personen. Auch dieses Mal – stille Gedenkminute, geordneter Abgang. Keine Schmierereien, keine Gewalttätigkeiten. Und im nächsten Jahr?