Die Leiche mit dem Lampenladen

Früher erfand er den Tatort, heute guckt er hin und wieder Siska, aber Derrick findet er abgenutzt: Ein Interview mit Gunther Witte, der vor genau 30 Jahren die Idee zur ARD-Krimi-Reihe hatte. Mit einem solchen Erfolg hat er damals nicht gerechnet

taz: Herr Witte, verraten Sie uns ein Geheimnis?

Gunther Witte: Kommt drauf an ...

Wem gehören eigentlich Augen und Beine im „Tatort“-Vorspann?

Als wir den „Tatort“ 1970 erfanden hat der Bayerische Rundfunk den ehemaligen Schauspieler Horst Lettenmayer dafür verpflichtet. Er hat damals wahrscheinlich ein paar hundert Mark als Gage bekommen. Im Nachhinein hat er sich fürchterlich darüber geärgert. Um ihn zu besänftigen, haben wir ihm dann eine Rolle in einem „Schimanski“ gegeben. Er hat eine Leiche gespielt. Heute hat er einen gut gehenden Lampenladen.

Apropos Erfolg: Haben Sie denn mit einem derartigen Erfolg des „Tatort“ gerechnet?

Der „Tatort“ wurde damals aus der Not geboren. Das ZDF hatte eine so genannte Unterhaltungsoffensive gestartet und nahm der ARD mit dem „Kommissar“ alle Zuschauer weg. Die ARD musste also schnell reagieren. Da erinnerte ich mich plötzlich an eine Hörfunk-Reihe des Rias mit dem Titel „Es geschah in Berlin“, die ich als Student immer gehört hatte. Darin wurden Kapitalverbrechen, die wirklich passiert waren, auf spannende Weise fiktionalisiert. Außerdem fiel mir dazu spontan der Titel „Tatort“ ein, den ich dann – den ARD-Strukturen entsprechend – mit dem jeweiligen Städtenamen verbinden wollte: „Tatort Berlin“, „Tatort Köln“, „Tatort Hamburg“ und so weiter. Den Städtenamen haben die damaligen Fernsehspielchefs allerdings wieder gestrichen, und eigentlich sollte der „Tatort“ auch nur zwei Jahre laufen. Ich war verblüfft, dass die Reihe dann so erfolgreich geworden ist.

Sie selbst als „Tatort“-Erfinder hat das gewundert?

Ja, noch heute. Die vielen Kommissare, die unterschiedlichen Autoren, Regisseure und Geschichten, kein fester regionaler Bezug – das konnte doch eigentlich gar nicht gut gehen. Der Süddeutsche Rundfunk zum Beispiel hat im ersten Jahr einen „Tatort“ gebracht, der eher einem Dokumentarfilm über Mannheim glich als einem Krimi. Doch niemand hat sich aufgeregt, die Leute haben das von Anfang an akzeptiert. Ich glaube, gerade diesem Wechsel verdankt der „Tatort“ heute seinen Erfolg.

Und das ist das Geheimnis?

Nicht ganz. Beim „Tatort“ sind nach wie vor die besten Leute dabei. Regisseure wie Nico Hofmann oder Nina Grosse, von denen wir zunächst glaubten, dass sie nur noch Kinofilme drehen würden, kommen gerne für einen „Tatort“ ins Fernsehen zurück. Außerdem spielt die Neunzig-Minuten-Form eine große Rolle: Jeder Film ist etwas Besonderes, das sich aber unter dieses Label fügt. Aus dieser Tradition schauen die Leute auch weniger gelungene „Tatorte“ an, mit dem Wissen: Wenn er heute nichts war, ist er eben beim nächsten Mal wieder toll.

Jeder „Tatort“ versucht den Spagat zwischen unterhaltenden Elementen und ernsten Stoffen ...

Ein jeder Krimi hat per se schon unterhaltende Qualitäten. Beim „Tatort“ verbinden sie sich mit interessanten politischen und gesellschaftlichen Problemen der jeweiligen Zeit. Nehmen wir das Thema Kinderschändung in dem „Tatort: Manila“ aus dem Jahr 1998: Darüber dreht man normalerweise eine Dokumentation. Es wurde ein starker Krimi, der auch gesellschaftliche Folgen hatte, weil er auf das Thema aufmerksam gemacht hat.

Haben Sie eigentlich alle „Tatort“-Fälle gesehen?

In den ersten zwanzig Jahren schon. Wenn ich mal einen nicht gesehen habe, dann habe ich mir Kassetten schicken lassen. Da ich jetzt viel unterwegs bin, ist das ein bisschen mühsam geworden. Aber normalerweise gehört der Mord nach der „Tagesschau“ zum Sonntagabend – genauso wie die „Lindenstraße“.

Was war Ihr Lieblings-„Tatort“, wer ist Ihr Lieblings-Kommissar?

Ich beantworte lieber die zweite Frage zuerst: Schimanski, denn der kam vom WDR. Ersteres ist das „Reifezeugnis“ von Wolfgang Petersen. Ich habe noch als Dramaturg eng mit ihm zusammengearbeitet und ihn schon damals sehr geschätzt, ohne zu wissen, welchen Weg er mal geht. Seine NDR-„Tatorte“ waren großartig.

Schauen Sie sich denn überhaupt noch andere Krimis an?

Natürlich. Ich habe mir eine Zeit lang „Derrick“ angesehen, aber irgendwann damit aufgehört, weil ich das Konzept abgenutzt fand. Eine Reihe, die so stark auf einen Mann fixiert ist und eine klischierte Dramaturgie hat, kann nicht einen so langen Atem haben wie der „Tatort“. Gelegentlich schaue ich noch „Siska“, weil ich den Schauspieler gut finde.

Interview: STEPHAN-ALEXANDER
WEICHERT und ROBERT BONGEN