Onkel Tom für alle

Lasset die Moral mit gutem Gewissen rührselig sein! Der Philosoph Richard Rorty hält die Spannung zwischen Erkenntniskritik und Glauben an die Institutionen. Ein Streifzug durch seine jüngsten Essays

von RENÉ AGUIGAH

Richard Rorty ist Sokrates, sagt der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, „der wirkliche Sokrates unserer unüberbietbar westlichen Welt“. Vielleicht stimmt das ja. Sokrates war der erste professionelle Ironiker, Rorty ist gegenwärtig wohl der prominenteste. Die Lust an der Provokation, ein gewisses Sendungsbewusstsein findet man bei beiden. Und wenn die Athener meinten, Sokrates verführe die Jugend, warnen amerikanische Konservative bis heute, Rorty propagiere einen gefährlichen Nihilismus.

Das eigentlich Sokratische an Rortys Philosophie ist aber der dialogische Stil, den er seit einiger Zeit vervollkommnet. Er veröffentlicht keinen hochfahrend programmatischen Titel mehr wie „The Linguistic Turn“ (1967), keine langatmige Totalkritik der Philosophie wie in „Der Spiegel der Natur“ (1979); nicht einmal eine so plakative Heldin wie die „liberale Ironikerin“ findet sich mehr in seinen Schriften. Eher gleichen seine Essays aus den Neunzigerjahren dem ständigen Gespräch mit Freunden und Kritikern. Was Rortys Dialog fehlt, sind jene aufstrebenden Jünglinge, denen der Philosoph die Wahrheit über das Wesen der Dinge aus der Nase ziehen könnte. Nichts liegt ihm ferner als solche Hebammenkunst, deutlicher könnte die Parallele zu dem alten Griechen kaum enden: Rorty will sein Publikum überreden – und moduliert zu diesem Zweck seinen auf den ersten Eindruck so eingängigen Sound in allen Lagen: von detailversessener Repetition bis zu chauvinistischem Pathos, vom breit grinsenden Humor, wie man ihn aus amerikanischen Vorabendserien kennt, bis zu einer Art Parlamentsrhetorik, die den Leser aufdringlich umarmt oder ausschließt: „wir Intellektuelle“, „wir Pragmatisten“, „wir Deweyaner“.

Zwei Dutzend von Rortys Texten aus dem letzten Jahrzehnt liegen seit kurzem in deutscher Übersetzung vor, die meisten davon verstreut über zwei Reader. In beiden verabschiedet er jene Disziplin, die einst Erkenntnistheorie hieß, wendet sich statt dessen dem menschlichen Fortschritt zu und fragt, was auf dem so umgepflügten Feld der Philosophie wohl noch zu tun bleibe. Unterschieden sind die Bände eher nach Umfang und Zielgruppe. Ein Großteil der Essays, die unter dem Titel „Wahrheit und Fortschritt“ zusammengefasst sind, haben längst den Weg in die akademischen Fußnotenapparate gefunden. Da werden sie wohl auch bleiben, denn sie sind vor allem als Einzelstudien interessant: akribische Auseinandersetzungen mit einzelnen Autoren, etwa mit Hilary Putnam, Rortys Antipoden unter dem gemeinsamen Dach des Neopragmatismus, oder mit dem jungen, viel beachteten Werk seines Schülers Robert Brandom. Ab und an stolpert man über verhaltene Versuche des Autors, einzelne Kapitel zu verbinden („Wie ich im vorigen Aufsatz dargelegt habe“), und der Suhrkamp Verlag hat stillschweigend den Untertitel des Originals getilgt („Philosophical Papers“), aber ein Buch aus einem Guss ist doch nicht daraus geworden; es bleibt sperrig und voller Wiederholungen. In „Philosophie & die Zukunft“ spannen weniger Texte einen thematisch weiteren Bogen. Leider ist der Band zum Teil allzu lax übersetzt und lektoriert – da wird schon mal ein Satz gestrafft, ein Absatz versetzt oder Jürgen Habermas vom vernünftigsten zum „sensibelsten“ aller Gegenwartsphilosophen befördert. Lesenswert bleiben die Texte dennoch – etwa der Spinoza-Kommentar, der den Amsterdamer Philosophen als den „ersten Vertreter der Postmoderne“ liest, oder der autobiographische Essay „Wilde Orchideen und Trotzki“.

„Ich malte mir aus: Wenn ich Philosoph würde, könnte ich die Spitze der ,geteilten Linie‘ Platons erreichen“, erzählt Rorty da, „den Ort ,jenseits der Hypothesen‘, an dem das strahlende Sonnenlicht der Wahrheit in die geläuterte Seele der Weisen und Guten scheint.“ Der neutrale Standpunkt, um das Wesen der Dinge zu schauen, taucht leider nie auf, wen wundert’s, also ein zweiter Anlauf: Der eifrige Student überprüft die Texte seiner Leseliste auf ihre innere Logik. Aber auch dieses Verfahren befriedigt ihn nicht, da man ja, um Kohärenz herzustellen, bloß den Trick des heiligen Thomas befolgen müsse: „Stößt du auf einen Widerspruch, so triff eine Unterscheidung.“ Was dem Jungen blieb, war umfassende Ernüchterung, liest man da – und merkt, dass man einen entwaffnenden Mini-Bildungsroman in der Hand hält: Rorty presents Little Richard, der, lange vor der Promotion in Yale, den klassischen Streit zwischen zwei Erklärungsweisen der Wahrheit nicht nur durchlitten hatte, sondern auch beide Seiten der Front schon langweilig fand.

Wenn Rorty heute von der Wahrheit spricht, dann selten ohne Herablassung: ein Thema, „das lediglich eine kleine Gemeinde beschäftigt und nur von Philosophieprofessoren ernst genommen wird“. Dennoch widmet er der Frage seine ganze Energie, er rennt von allen Seiten gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit an, er zersetzt die Metaphern von der Sprache als „Abbild“, vom Vokabular, das sich „anschmiegt“ an eine Welt „da draußen“. Diesen Rorty stellt er selbst als „despektierlich“ vor; man könnte ihn auch den Abbilderstürmer nennen. Mag sein, dass Rorty seine Gegner zuweilen wie Holzschnitte zurichtet, um sie besser zu treffen. Fest steht, dass in diesem Punkt etwa mit Putnam oder Habermas kein Streit besteht: Die Welt hat nicht die Form von Sätzen.

Bestimmte Aussagen können „wahr“ sein, sagt Rorty, er hält das Adjektiv allerdings bloß für eine bequeme Art, Meinungen zu loben. Denn verstrickt in die Gegenwart, ohne Wissen über die Zukunft, kann sich keiner der ewigen Gültigkeit seiner Überzeugungen sicher sein: „Auch unter der Voraussetzung, dass ,wahr‘ ein absoluter Begriff ist, werden die Anwendungsbedingungen dieses Begriffs immer relativ bleiben.“ In dieser Formel steckt Rortys zentrales Anliegen: Die Anwendungsbedingungen gruppieren sich um die Rechtfertigung von Aussagen; relativ sind sie, weil sie stets auf eine bestimmte Sprechergemeinschaft bezogen bleiben, vor der Aussagen gerechtfertigt werden. Wahrheitsansprüche, die diese Gemeinschaft überschreiten, oder gar solche, die nach universeller Geltung greifen, interessieren Rorty nicht. Was nicht relativ ist, darüber muss man schweigen.

Während Habermas auf immer verzwicktere Weise „Wahrheit und Rechtfertigung“ oder „Wahrheit und Richtigkeit“ auseinander zu halten versucht, schiebt Rorty diese Unterscheidungen einfach beiseite, und manchmal schwingt er dabei den persuasiven Hammer: „Richtig nach wessen Maßstäben? Nach unseren. Nach wessen Maßstäben denn sonst? Nach denen der Nationalsozialisten?“

Rortys wortreiche Plädoyers verfolgen das eine Ziel, die theoretische Durchdringung der Wahrheit aufzugeben. Der Preis dafür ist hoch, gerade für einen, der sich selbst als rechtmäßigen Erben der angelsächsischen Common-sense-Philosophie sieht. Denn er gibt die alltägliche Intuition auf, dass die Wahrheit einer Aussage gerade in ihrer Kontexttranszendenz bestehe: Zwei plus zwei ist immer und überall vier. Der „gemeine Mann“, den Rorty so gerne zitiert, hält an anderer Stelle wieder Einzug: Die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung interessiert ihn deshalb nicht, weil sie „unerheblich für meine Entscheidungen darüber (ist), was ich tun soll“.

Womit er in jener Disziplin landet, die einst Moralphilosophie hieß. Auch hier ist Rortys erster Spielzug: Begriffe ersetzen. Moralischer Fortschritt basiert nicht auf einem Zuwachs an Wissen, und die vernünftige Einsicht in eine moralische Pflicht verpufft ohne Wirkung für tatsächliches Handeln. Deshalb ist Empfindsamkeit Rortys Ziel. Um es zu erreichen, müssen die Gefühle der Menschen manipuliert werden, und zwar am besten mit „rührseligen Geschichten“ – „Onkel Toms Hütte“ ist sein Lieblingsbeispiel. Die Kinder der amerikanischen Mittelklasse weiß Rorty in dieser Hinsicht auf einem guten Weg, er kennt sie aus seinen Universitätsseminaren: „Die Erziehung ganzer Generationen von derart netten, toleranten, wohlhabenden, geborgenen und andere Menschen respektierenden Studenten in allen Teilen der Welt ist genau das, was nötig ist – ja eigentlich das einzige, was nötig ist –, um zu einem Aufklärungsutopia zu gelangen. Je mehr junge Leute dieser Art von uns groß gezogen werden können, desto stärker und globaler wird unsere Menschenrechtskultur werden.“

Man muss nicht den verschlungenen Einwänden eines Theoretikers wie Homi Bhabha folgen, um den Ethnozentrismus dieser Position zu bemerken; Rorty vertritt ihn ganz unverhohlen. Dass „unsere Kultur moralisch über den anderen steht“, steht für Rorty außer Frage. Dass man den „bösen Leuten“, iranischen Fundamentalisten etwa, begegnen sollte wie „Benachteiligten“, ebenfalls. Rortys Vertrauen in die „reichen Demokratien von heute“ kennt keine Grenzen, weil sie „schon die Art von Institutionen umfassen, deren es zur Selbstreform bedarf“. Da spricht nicht mehr der Bilderstürmer, sondern der patriotische Verteidiger des Status quo. Die Frage, warum Rorty sich immer noch so emphatisch mit der politischen Linken identifiziert, ist so einfach nicht zu beantworten – compassion mit den Leidenden kennt auch der Konservativismus von George W. Bush.

Vielleicht ist es diese Spannung zwischen radikaler Erkenntniskritik und bewahrendem Glauben an die amerikanischen Institutionen, die Rortys Werk so irritierend macht. In dem kleinen Band „Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gemeinschaft der Philosophen“ definiert Rorty die Philosophen als diejenige Gruppe von Intellektuellen, die sich von Platon und Kant fesseln lassen – und zwar deshalb, weil diese beiden den Zwiespalt zwischen dem Schönen (verstanden als als Harmonie, Ordnung) und dem Erhabenen (etwas Unvertrautes, Unsagbares) in ihrem Werk nicht auflösen. Wenn es stimmt, dass erst diese innere Spannung eines Werks einen kanonischen Philosophen macht, ist Rorty auf dem besten Weg dorthin.

Richard Rorty: „Wahrheit und Fortschritt“. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 515 Seiten, 64 DMRichard Rorty: „Philosophie & die Zukunft“. Aus dem Amerikanischen von Matthias Grässlin, Reinhard Kaiser, Christiane Mayer und Joachim Schulte. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000, 191 Seiten, 26,90 DMRichard Rorty: „Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gemeinschaft der Philosophen“. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger und Jürgen Blasius. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 86 Seiten, 16,90 DM