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Erst verteilen, dann stehlen

Grigorescus wählen den Ex-Kommunisten Iliescu. Nachbarin Manole den Extremisten Tudor. Und Zahnärztin Maria Pop überlegt, das Land zu verlassen

aus Bukarest KENO VERSECK

Früher waren die Wohnungen im Viertel abends dunkel, weil der Strom gesperrt wurde. Heute gibt es keine Stromsperren mehr, die Wohnungen sind dennoch dunkel. Viele Leute schalten ihre Lampen nicht ein. Jene, die zusehen müssen, dass sie unter 100 Kilowatt im Monat bleiben, denn die gibt es noch zum Sozialtarif. Strom ist sowieso teuer genug. Deshalb ersetzt der Balkon jetzt, im Herbst, und später im Winter den Kühlschrank.

Die Neubaublocks sind kaum fünfzehn Jahre alt und sehen schon aus, als ob sie bald einstürzen würden. Nach vorn, auf den Boulevard, die Hauptstraße der Stadt, Fassaden mit Stuck. Nach hinten nackte Blocks, schlecht zusammengefügte Platten, aus denen Betonstücke herausfallen.

Aber das Viertel hinter dem Boulevard ist nicht das schlechteste. Ruhig. Die Müllabfuhr funktioniert halbwegs. Die Zentrale heizt immerhin so viel, dass es in den Wohnungen lauwarm ist im Winter. Meistens gibt es auch warmes Wasser. Und nicht so viele Zigeuner, die Skandale machen. Sagen die Bewohner.

Im Block Nummer 22, Aufgang 3 wohnt Andrei Grigorescu. Ein stiller Mann mit nachdenklichem Gesicht und traurigen Augen. Es passt gar nicht zu ihm, dass er einst Offizier in der Armee war. Vor vier Jahren, mit 50, ist er in Rente gegangen, wie alle aus der Armee. Jetzt hilft er in der Blockverwaltung. Gegen ein kleines Entgelt rechnet er die Wasser- und Heizungskosten für die Bewohner aus.

Andrei Grigorescu und seine Frau Steluta haben schon immer für den ehemaligen Staatspräsidenten, den Ex-Kommunisten Ion Iliescu, gestimmt. Jetzt, bei den Wahlen am Sonntag, werden sie es wieder tun. Sie wissen, er wird wohl gewinnen. An eine bessere Zukunft glauben sie trotzdem nicht. Immerhin, unter Iliescu gab es ein größeres Gleichgewicht zwischen Preisen und Einkommen. Die jetzigen Machthaber, die letzten vier Jahre waren die schlimmsten nach 1989, nach dem Sturz Ceaușescus. Die von der Bauernpartei sind aus dem Ausland gekommen und haben sich die Häuser und die Wälder zurückgeholt, die die Kommunisten vor fünfzig Jahren enteignet haben. Ansonsten gab es nur neue und immer neue Steuern. Das ist keine rumänische Politik, das ist vom Ausland diktiert!

Andrei Grigorescu und seine Frau haben zusammen dieses eine Zimmer gekauft. Sechzehn Quadratmeter. Da stehen ein Bett, ein massiver Schrank und zwei Fernseher. An der Wand hängen kleine Heiligenbilder und Familienfotos. Die beiden Eheleute haben dreihundert Mark im Monat. Das meiste geht für Lebensmittel drauf. Sie tragen seit zehn Jahren dieselbe Kleidung, dieselben Schuhe. Ein vernünftiger Kühlschrank, ein neues Radio, das wäre nicht schlecht. Eine Wohnung mit zwei Zimmern, einmal im Jahr eine Woche am Meer, das ist so weit weg wie die Vorstellung von einer besseren Welt.

Ioana Manole, die Nachbarin eine Etage tiefer, wird nicht für Iliescu stimmen. Er ist alt und verbraucht. Er war schon zwei Mal Präsident, das reicht. Ioana Manole wird für Corneliu Vadim Tudor stimmen, über den es heißt, er sei Extremist, Nationalist und gegen die Minderheiten. Aber das stimmt nicht, sagt sie, er ist ein guter Rumäne. Dass er mit dem Maschinengewehr regieren und die Vermögen der Reichen konfiszieren will, wäre eine sinnvolle Maßnahme. Es stimmt, Tudor schreit oft, er beschuldigt viele Politiker, aber er ist nie verurteilt worden für das, was er gesagt hat. Also muss wohl was Wahres dran gewesen sein.

Ioana Manole, die rüstige, fröhliche Achtzigjährige, will sich nicht zu sehr beklagen, das betont sie. Sie lebt von hundertzehn Mark Rente im Monat, aber andere haben noch viel weniger. Sie ist auf dem Land geboren, ihre Eltern waren arme Bauern im Süden. Sie selbst hat zeitlebens als Krankenschwester in Bukarest gearbeitet und unter den Kommunisten sogar ein Fachabitur machen können. Sie wohnte in einem Haus mit Hof, das wurde im Dezember 1987 abgerissen, weil Ceaușescu Platz für seinen Palast und seinen kilometerlangen Boulevard brauchte. Dafür hat der Staat sie entschädigt und ihr hier, auf der Rückseite des Boulevards, eine Wohnung gegeben. Andere haben sich umgebracht, weil ihre Häuser abgerissen wurden. Sie nicht. Obwohl es traurig war und sie jetzt nur zwei Zimmer und keinen Hof hat.

Ioana Manole hat vor vier Jahren für Emil Constantinescu gestimmt, den demokratischen Staatspräsidenten. Er ist ein rechtschaffener Mann, aber allein kann er nichts ausrichten. Die Leute haben die Demokratie falsch verstanden. Sie schmeißen ihren Müll einfach aus dem Fenster und machen, was sie wollen. Corneliu Vadim Tudor hat Recht: Es ist eine Tragödie, dass Ceaușescu gestürzt wurde. Er, Tudor, wird in dieser falsch verstandenen Demokratie aufräumen, mit der Mafia, der Korruption, der Gesetzlosigkeit, und er wird sich um die Menschen kümmern.

Dieser Übergang zur Marktwirtschaft, zur Privatisierung, hat wenig verändert, und vieles zum Schlechten. Das sagen die meisten Leute im Viertel. Früher haben sie uns Sojawurst verordnet, heute können wir uns Fleisch nicht leisten. Die Betriebe wurden verschleudert, auch die, die Gewinn brachten. Die Arbeiter entlassen. Das ist keine Privatisierung, das ist Diebstahl! Und die Kandidaten für das Präsidentenamt schreien sich im Fernsehen an, bis die Regie auf Werbung schaltet. In diesem Land stiehlt jeder. Gut, dagegen ist nichts zu machen. Aber es müsste einer an die Macht kommen, der zunächst ans Volk verteilt und erst danach selber stiehlt. In Maßen. Dann wäre es auszuhalten.

Das sagt auch Maria Pop, die Zahnärztin, die im Aufgang 1 wohnt. Sie weiß nicht, für wen sie stimmen wird, sie weiß nur, sie wird zur Wahl gehen. Nicht für Iliescu oder Tudor, so viel ist klar.

Maria Pop lebt mit ihren Eltern, ihrer Schwester und deren Sohn in drei Zimmern. Als Zahnärztin mit eigener Praxis verdient sie das meiste Geld in der Familie. Dreihundert Mark im Monat, mal mehr, mal weniger. Um ihre Eltern, ihre Schwester und deren Sohn zu unterstützen, ist sie zu Hause geblieben und verzichtet mit ihren dreiunddreißig Jahren auf eine eigene Wohnung.

Marias Tante lebt in Deutschland. Sie schickt regelmäßig Pakete mit gebrauchten Kleidern. Wir schämen uns nicht dafür, die Sachen sind gut, sagt Maria eilig. Insgeheim denkt sie vielleicht, dass es manchmal entwürdigend ist, arm zu sein. Sie könnte mehr Geld verdienen, denn aus Überzeugung zahlt sie pünktlich Steuern, und aus Mitleid mit ihren Patienten, die keine reichen Leute sind, hält sie ihre Preise niedrig.

Maria findet es besser, heute zu leben als vor 1989. Aber der Übergang, der Sturz Ceaușescus, das ging wohl doch alles viel zu schnell. Statt Bücher zu lesen oder ins Theater zu gehen, treiben sich die jungen Leute heute in Spielsälen und Diskotheken herum. Jeder will schnelles Geld machen, Bildung zählt nicht mehr. Maria hätte weggehen können aus dem Land. Es gab einige Gelegenheiten, im Westen eine Arbeit zu finden. Sie hat gezögert, wollte die Eltern nicht allein lassen. Aber die nächste Gelegenheit, sagt Maria, die lässt sie nicht mehr verstreichen.

Da wird sie nicht die Einzige sein.

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